Das Geloebnis
untergebracht, und dann blieb ihr etwas Zeit für sich selbst. Da sie starkes Verlangen danach trug, fremdartige Dinge zu sehen, ging sie zu dem Tor des Tempels, den sie als Unterkunftsstätte gemietet hatten – die Männer waren diesmal in Zelten außerhalb der Stadt untergebracht –, und als sie dort stand, sah sie mehrere Frauen vorbeikommen, die nicht zu ihrer Schar gehörten. Nun wußte sie aber, daß es noch ein Lager in dieser Stadt gab, denn als sie wie gewöhnlich Chung ihren Rapport erstattete, sagte er: »Hier sind ziemlich viele kranke Soldaten, die von der anderen Armee zurückgelassen wurden. Sie leiden an Malaria tropica. Heute abend will ich in den Süden der Stadt gehen, wo sie untergebracht sind, und nach ihrem Befinden sehen. Unsere Leute habe ich absichtlich im Norden lagern lassen, damit sie von den Kranken möglichst getrennt sind.«
»Malaria tropica?« wiederholte Mayli. Da erzählte er ihr von dieser Krankheit, die so rasch ausbricht und so grauenhaft ist, weil sie sowohl den Körper als auch das Hirn des Menschen ergreift.
»Wie kann ich meine Frauen davor schützen?« erkundigte sie sich in großer Aufregung.
»Sie dürfen nicht von Mücken gestochen werden«, gab er ihr Bescheid.
So hatte sie den Abend damit verbracht, die Frauen über diese Gefahr aufzuklären, und während sie sprach, kam ein alter Priester dazu, der sagte: »Laßt sie in der Nähe von brennendem Weihrauch schlafen, denn die Teufel, die diese Krankheit bringen, hassen Weihrauch, der den Göttern zu Ehren brennt.«
Darauf brachte er Weihrauch herbei und Fidibusse aus braunem Papier, an denen er die Weihrauchstengel anzündete.
Danach nun war Mayli fortgegangen und stand dann eine Weile am Tor, um die Straße und das Kommen und Gehen der Leute zu beobachten. Und so erblickte sie die jungen Frauen, die nicht zu ihrer Schar gehörten.
Dies war aber das Erlebnis, das sie hatte, während sie da stand, und es war eines jener Erlebnisse, von denen die Menschen, die davon hören, sagen, daß es sich nicht zugetragen haben könne; indes es trug sich zu. Unter den jungen Frauen vernahm sie eine Stimme, die sie zu kennen glaubte. Sie schaute, und da gewahrte sie ein Gesicht, das sie wirklich kannte. War das tatsächlich Shengs jüngere Schwester, die kleine Pansiao, die sie vor Monaten in einer Schule in den Berghöhlen zurückgelassen hatte, wo sie eine Zeitlang als Lehrerin tätig gewesen war?
Sie starrte das Mädchen an und dachte: »Sie ist es – Pansiao«, und dann dachte sie: »Es kann nicht Pansiao sein, denn sie war so jung und zart, und wie könnte sie sich überhaupt hier aufhalten?«
Ganz nahe gingen die jungen Frauen an ihr vorüber. Sie waren alle in Uniform und plauderten lachend. Da sagte Mayli mit leiser Stimme, aber sehr deutlich: »Pansiao!«
Das junge Mädchen, von dem sie den Blick nicht gewandt hatte, blieb stehen, drehte sich um und sah sie mit großen Augen an. Es war Pansiao.
»Oh«, rief sie, »du!«
Sie löste sich von der Gruppe, sprang zu Mayli, ergriff Maylis Rechte mit beiden Händen, betrachtete sie und lachte und drückte Maylis Hand an ihre Brust. »Wohin bist du gegangen?« stieß sie hervor. »Oh, wie habe ich dich vermißt, als du fort warst! Deinetwegen bin ich weggelaufen. Ja, wegen all der Dinge, die du zu uns gesagt hast. Weißt du noch, wie du nicht wolltest, daß ich Paul Revers ›Ritt‹ auswendig lernte?«
»Ich erinnere mich«, erwiderte Mayli lachend. »Komm doch herein.«
»Das ist meine Freundin«, erklärte Pansiao fröhlich den andern Mädchen, die vor Verwunderung wie erstarrt dastanden. »Sie ist meine Lehrerin – oder vielmehr sie war es.«
»Kommt alle herein«, forderte Mayli die Schar auf. So traten sie durchs Tor und ließen sich auf den Marmorstufen vor dem Tempel nieder.
Pansiao erzählte nun, wie sie von Miß Freem und der Schule in den Höhlen fortgelaufen war.
»Zu sechst brannten wir durch«, berichtete sie. »Einige schlugen diese Richtung ein, einige eine andere. Oh, es war ganz leicht. Ich lief einfach eines Tages fort. Die Truppen waren nicht weit entfernt, und viele Leute zogen nach Süden, und ich ging mit ihnen. Sie gaben mir von ihrem Essen ab, als sie hörten, daß ich zum Heer wollte.«
Mit ihren roten Wangen und ihren sanften braunen Augen sah sie so kindlich und frisch aus, obwohl sie vom Marschieren mager und sehnig geworden war, daß Mayli ihr voll Zärtlichkeit zulächeln mußte. Zu dieser natürlichen Zärtlichkeit kam aber
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