Das Gelübde einer Sterbenden
sein Gesicht. Wie angenehm und leicht würde ihm dann die Erfüllung seiner Pflicht! Er wohnte dann mit Jeanne zusammen, arbeitete, und sie verdankte ihm Alles. Er nannte sie Tochter, sie ihn Vater. In dieser Armut und Einsamkeit erzog er ihr leicht alle möglichen Tugenden an, machte er sie stolz und stark im Guten. Schon hörte er in Gedanken die glühenden Danksagungen seiner guten Heiligen. Plötzlich blieb er stehen. Ein schrecklicher Gedanke war ihm in die Quer gekommen, nämlich, daß seine Mission eine lächerliche sei. War es eine Aufgabe für einen so jungen Menschen über ein kleines Mädchen zu wachen?
Ganz gewiß wäre den Vorübergehenden seine edle Naivität recht komisch vorgekommen, wenn sie seine Gedanken hätten lesen können. Es trat jetzt wieder die alte Aengstlichkeit seiner Schuljahre hervor. Wie, er sollte ewig ein Paria bleiben? Denn wenn er schon von Natur so unbeholfen war, wie sollte er je im Leben weiter kommen, nun ihm eine so absonderliche Pflicht aufgebürdet war?
Aber diese schlechte Regung, diese Rücksicht auf die praktische Wirklichkeit konnte nicht lange die Oberhand über seinen Geist behalten. Allmählich kehrten seine Gedanken zu der gewohnten Ruhe zurück; er wurde wieder der unwissende Knabe, der er immer gewesen war. Er sah nur noch Frau von Rionne ihm zulächeln und hörte sie liebevoll reden. Da war es vorbei mit der egoistischen Angst, mit der Rücksicht auf die Meinung der Welt. Er hegte nur noch den Wunsch gut zu sein.
Dieser Kampf zwischen den verschiedenen Gedanken und Empfindungen machten schließlich seinen Kopf so matt und müde, daß sein Geist die Dinge nicht mehr scharf ins Auge zu fassen vermochte. Er stand von weiteren Grübeleien ab und nahm sich nur fest vor, daß er der Eingebung seines Herzens folgen wolle; dann könne sein Werk nur gut ausfallen. Alles Andere überließ er dem Willen des Schicksals.
Nun ging er aus sich heraus, bekümmerte sich um die Außenwelt, sah sich die Vorübergehenden an, freute sich der linden Abendluft. Und damit trat auch das materielle Leben bei ihm wieder in seine Rechte; er fing an sich zu fragen, wo er hingehen, was er thun solle.
Der Zufall hatte ihn vor eins der Thore des Luxembourg gebracht, dasjenige, das der Rue Bonaparte so ziemlich gegenüber liegt. Er trat in den Garten und sah sich nach einer Bank um, denn er war wie gerädert vor Müdigkeit.
Unter den Kastanienbäumen spielten, liefen und jauchzten die Knaben und Mädchen. Die Kindermädchen in ihren hellen Frühlingskleidern standen dabei und hörten vergnügt auf die Schmeichelreden, die ihnen die Männer zuflüsterten.
In der hereinbrechenden Abenddämmerung gingen und kamen eine Menge kleiner Leute, wie sie das gewöhnliche Publikum der öffentlichen Gärten und Parke bilden. Von den Bäumen senkte sich ein grüner, durchsichtiger Schimmer herab; die Decke, die das Laub über den Köpfen ausbreitete, war niedrig und wehrte den Durchblick nach dem Himmel; am Horizonte blieben Lücken, durch die man die weißen Marmorstatuen und Geländer sah.
Daniel hatte Mühe eine unbesetzte Bank zu finden. Er fand endlich eine abseits gelegene und setzte sich mit einem Seufzer des Behagens. An dem andern Ende der Bank saß ein junger Mann und las. Er richtete den Kopf empor, sah den Ankömmling an und tauschte mit ihm ein Lächeln aus.
Da das Tageslicht abnahm, klappte der junge Mann bald sein Buch zu und ließ seine Blicke über die Umgebung hinschweifen. Daniel, dem der Andre sympathisch war, vergaß seine Sorgen und folgte mit den Augen jeder Bewegung seines Nachbars.
Dieser war von hohem Wuchse und hübschem, etwas strengem Gesicht. Seine weit aufgeschlagenen Augen hatten einen geraden Blick; seine prallen, starken Lippen zeugten von Energie und Rechtschaffenheit und auf der hohen Stirn spiegelte sich ein großherziger Charakter ab. Er schien etwa zwanzig Jahre alt zu sein. Seine weißen Hände, seine einfache Kleidung, die ruhige Haltung verrieten einen fleißigen Studenten.
Nach Verlauf einiger Minuten wandte er den Kopf und heftete auf Daniel einen geraden, durchdringenden Blick. Dieser neigte die Stirn, um nicht das spöttische Lächeln zu sehen, mit dem man ihn sonst überall empfing. Aber als er dreister wurde und die Augen wieder aufschlug, las er in den Zügen des Andern nur freundschaftliches Entgegenkommen. Dankbar gestimmt, wagte er an den unbekannten Freund näher heranzurücken, mit der Bemerkung, es wäre schönes Wetter, und der Luxemburger
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