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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Garten sei doch ein wahres Paradies für müde Spaziergänger.
    O, wie wohltuend sind doch manche gemütlichen Plaudereien, die aus einer zufälligen Begegnung entstehen und bisweilen eine Freundschaft für das ganze Leben einleiten! Man sieht sich zum ersten Mal, und siehe da! man schüttet sein Herz aus, man läßt den Andern mit gänzlich unvermittelter, unüberlegter Vertrauensseligkeit in die tiefsten Falten seines Innern blicken. Man findet eine wahre Wonne darin, so aufs Geratewohl zu beichten und sich vollständig gehen zu lassen.
    Nach einigen Minuten kannten sich die beiden jungen Leute, als wenn sie seit ihrer Kindheit beständig zusammen gelebt hätten. Sie waren auf der Bank dicht aneinander gerückt und scherzten wie Brüder miteinander.
    Zuneigung entsteht sowohl aus der Aehnlichkeit wie aus der Unähnlichkeit der Charaktere. Daniels neuer Freund hatte sich offenbar zu ihm hingezogen gefühlt durch seine Aengstlichkeit, sein linkisches Wesen, seinen sanften Gesichtsausdruck, seine ganze absonderliche Erscheinung. Stark und wohlgestaltet, wie er war, gefiel er sich darin, den Schwachen Güte zu bezeigen.
    Als sie eine Weile geplaudert hatten, fühlten sie, daß ihre Herzen ein Bund auf Lebenszeit vereinte. Beide waren elternlos, beide hatten sich die Erforschung der Wahrheit als Lebensziel gesteckt, beide waren auf sich selbst angewiesen. Sie waren Geistesverwandte und die Gedanken, die der Eine äußerte, weckten ähnliche in dem Geiste des Andern. Daniel erzählte im Laufe des Gesprächs seine Lebensgeschichte, ohne jedoch der Aufgabe Erwähnung zu thun, der er sein Leben geweiht hatte. Dazu brauchte er sich auch keine Gewalt anzuthun, denn diesem Geheimnis hatte er ein für allemal einen besonderen so tief verborgenen Platz in seinem Innern angewiesen, daß es für immer allen Blicken unzugänglich war.
    Er erfuhr, daß sein Freund mutvoll gegen die Armut ankämpfte. Ohne einen Heller in Paris angekommen, hatte der mannhafte, geistig hochveranlagte junge Mensch sich vorgenommen ein hervorragender Gelehrter seines Jahrhunderts zu werden. Einstweilen aber fiel es ihm schwer, sein Leben zu fristen; er mußte sich zu harter, schlecht bezahlter Arbeit hergeben und konnte nur des Abends und des Nachts studiren.
    Während sich die Beiden so mit all der Vertraulichkeit der Jugend unterhielten, war die Dunkelheit unter den Kastanienbäumen dichter geworden. Man sah nur noch die weißen Schürzen und Hauben der Kindermädchen. Aus den abgelegensten Winkeln des Gartens ließ sich leises Gemurmel und Lachen vernehmen.
    Da erschallten die Trommeln, die dem Publikum das Zeichen gaben, den Garten zu räumen. Auch Daniel und sein Kamerad erhoben sich jetzt und lenkten gemeinsam ihre Schritte auf die kleine Gitterthür zu, die damals nach der Rue Royer Collard hinausführte.
    Auf dem Bürgersteig der Rue de l’Enfer blieben sie einen Augenblick stehen und plauschten weiter. Da unterbrach plötzlich der Andere seinen Gedankengang und fragte Daniel:
    »Wo gehen Sie hin?«
    »Ich weiß nicht,« antwortete Daniel ruhig.
    »Was? Haben Sie denn keine Wohnung, kein Obdach für die Nacht?«
    »Nein.«
    »Aber zu Abend gegessen haben Sie doch wenigstens?«
    »Auch nicht.«
    Beide lachten. Daniel sah ganz so aus wie Einer, der sich in einer spaßhaften Lage befindet. »Kommen Sie mit mir,« sagte der Andre, als handelte es sich um etwas Selbstverständliches. Er ging mit ihm zunächst zu einer Obst- und Gemüsehändlerin, die eine Speisewirtschaft hatte und bei der er seine frugalen Abendmahlzeiten einzunehmen pflegte. Sie wärmte ein Ragout für Daniel, das dieser gierig verschlang; er hatte seit dem Abend des vergangenen Tages nichts genossen.
    Nachher nahm er ihn mit nach dem Zimmer, das er in der Impasse Saint Dominique d’Enfer Nr. 7 bewohnte. Das Haus ist jetzt niedergerissen. Es war ein mächtiges Gebäude, einst ein Kloster, mit breiten Treppen und hohen Fenstern. Die nach hinten hinaus gelegenen Dachstuben überragten große, mit schönen Bäumen bepflanzte Gärten.
    Die beiden jungen Leute setzten sich an das offne Fenster und enthüllten einander, die Augen auf die dunklen Kronen der Ulmen gerichtet, mehr und mehr ihr Innerstes. Um Mitternacht saßen sie noch so, Hand in Hand und plauderten eifrig.
    Daniel legte sich auf ein Sofa zur Ruhe nieder, dessen roter Bezug schon arg zerfetzt war. Als die Lampe ausgelöscht war, fragte sein Freund noch:
    »Beiläufig gesagt, ich heiße Georg Raymond. Und Sie?«
    »Daniel

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