Das Gelübde einer Sterbenden
Raimbault.«
V.
Am folgenden Tage stellte Georg seinen Freund Daniel einem Verleger vor, für den er arbeitete, und verschaffte ihm so eine Stelle als Mitarbeiter an einem encyklopädischen Wörterbuch, das circa dreißig junge Leute beschäftigte. Diese Gehülfen kompilirten und kollationirten zehn Stunden lang pro Tag und bekamen dafür achtzig bis hundert Franken monatlich, je nach ihren Leistungen. Der Chef ging in dem Arbeitssaal auf und ab und paßte auf wie ein Schulmeister, ob jeder seine Schuldigkeit thäte. Die Manuskripte zu lesen fiel ihm nicht ein, aber er setzte seinen Namen unter das Ganze. Diese Sklavenaufseherarbeit brachte ihm zwanzigtausend Franken jährlich ein.
Daniel nahm gern und mit Dank die vertierende Beschäftigung an, die man ihm anbot. Georg lieh ihm sein ganzes Geld, verschaffte ihm Kredit bei der Gemüsehändlerin und mietete ihm ein Zimmer in seiner nächsten Nachbarschaft.
Während der ersten vierzehn Tage kam Daniel nicht zur Besinnung, so vollständig nahm ihn das Leben, das er jetzt führte, in Anspruch. Er war nicht an eine solche übermäßige Arbeit gewöhnt; des Abends tanzte ihm Alles, was er gelesen und geschrieben hatte, im Kopf herum. Für seine eigne Rechnung zu denken blieb ihm fast gar keine Zeit übrig.
Eines Sonntags früh indessen, als er einen ganzen freien Tag vor sich hatte, ergriff ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht, die kleine Jeanne wiederzusehen. Hatte er doch in der Nacht von seiner armen Wohlthäterin geträumt, und dies hatte seine ganze Begeisterung wieder entfacht. Er ging verstohlen aus, ohne Georg zu benachrichtigen, und schlug den Weg nach dem Boulevard des Invalides ein.
Er war gut aufgeräumt. Die Glieder waren ihm ganz steif geworden während der vierzehn Tage, die er auf einem Stuhl sitzend zugebracht hatte, und nun war ihm zu Mute wie einem Schuljungen, der frei bekommen hat und bummeln darf.
Er grübelte nicht viel, sondern freute sich nur auf das Wiedersehn mit Jeanne und genoß, vergnügt wie ein Kind, die Bewegung in der freien Luft. Den ganzen Weg über sah er alles von der lichten Seite an und gab nicht der geringsten Sorge Raum.
Als er aber vor der wohlbekannten Gitterthür stand, packte ihn eine plötzliche Angst. Was sollte er da drinnen thun, was sagen und was würde man ihm antworten?
Bei diesem Gedanken wurde ihm geradezu schwach zu Mute. Vor allen Dingen quälte ihn die Sorge, was für einen Grund er für seinen Besuch angeben sollte.
Aber er wollte nicht nachdenken, denn sonst hätte er den Mut ganz verloren und so klingelte er schließlich ganz tapfer, während er innerlich zitterte.
Die Thür that sich auf, er durchschritt den Garten, blieb aber dann, im Bewußtsein seiner Unbeholfenheit, auf der ersten Stufe der Freitreppe stehen. Als er seine Beklommenheit los geworden war, wagte er es, die Augen aufzuheben und sich umzusehen.
Aus dem Hause drang zu ihm der Schall von Hammerschlägen; er sah Tischler, die an den Thüren des Hausflurs arbeiteten und an der Fassade kratzten Anstreicher den Putz ab. Verwundert und vielleicht auch erfreut, erkundigte sich Daniel bei einem Arbeiter nach Herrn von Rionne. Der Mann wies ihn an den Pförtner, und dieser teilte ihm mit, der Herr habe das Haus verkauft und wohne jetzt in der Rue de Provence.
Der Witwer hatte gleich nach dem Tode seiner Frau einen Haß auf das Haus geworfen, in dem er vor Angst so sehr geweint hatte. Es roch darin noch nach dem Leichenbegängnis und er erbebte jedes Mal, wenn er die Treppe hinunterging, weil er den Sarg knacken zu hören glaubte, wie ihn die Leichenträger gegen die Wand anstießen. Er beschloß also, schleunigst auszuziehen.
Außerdem überlegte er sich, daß der Verkauf des Hauses ihn in den Besitz einer hübschen Summe Geld setzen würde, und endlich wandte er recht gern dem Boulevard des Invalides den Rücken, um in das feinste Stadtviertel überzusiedeln. Da hatte er doch, sobald er sein Junggesellenleben wieder aufnehmen konnte, die Gelegenheit dem Laster zu fröhnen, bei der Hand. Er mietete also eine ganze erste Etage und zog aus.
Daniel schrieb sich die neue Adresse auf und brach, getrieben von dem Wunsche Jeanne um jeden Preis wiederzusehen, nach der Rue de Provence auf. Aber während dieses weiten Ganges sang es nicht mehr so fröhlich in seinem Herzen, denn jetzt traten ihm die Schwierigkeiten seiner Aufgabe und die Ungewißheiten des Lebens drohender denn je vor Augen. Hierzu kam noch eine an sich unbedeutende
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