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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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an seine Tochter zu denken; während Frau Tellier aus Selbstsucht Jeanne verwahrloste und unglücklich machte, wachte er, den nur die Bande der Dankbarkeit an die Familie fesselten, über das junge Mädchen und empfand es bitter, daß ihm kein Recht auf ihre Erkenntlichkeit zustand. Er hatte endlich eingesehen, daß er Jeanne tagtäglich verletzte und kränkte. Es mußte ihr rätselhaft sein, mit welchem Rechte er sie überallhin mit strengen Blicken verfolgte. Er war ja in ihren Augen nur ein armer Teufel von Schreiber, den sie nur aus Mitleid schonte. Unter der Last dieser Geringschätzung, über die er sich keiner Selbsttäuschung hingab, erlahmte dann und wann seine Kraft und kamen die Stunden, die sein Herz mit grenzenloser Bitterkeit erfüllten.
    Hätte er jedoch die zugleich scheuen und hochmütigen Blicke, die das junge Mädchen auf ihn zu richten pflegte, besser studirt, so würde er trostvolle Freude empfunden haben. Er bewirkte eine wichtige Umwälzung in ihrem Innern, indem er ihr schlafendes besseres Ich weckte; denn was sie für Zorn hielt, waren eben nur die neuen ungekannten Gefühle, die sich jetzt geltend machten. Daniel bewirkte, daß ihr das Gewissen schlug, was sie nicht wahr haben wollte. In seiner Gegenwart schämte sie sich, und das brachte sie gegen ihn auf.
    In seiner Unzufriedenheit machte sich Daniel jeden Morgen immer neue Vorwürfe, daß er sie nicht geraubt hatte, als sie noch ganz klein war. Statt dieses Windbeutels, dieser leichtfertigen Spötterin, hätte er sich doch solch ein gutes, sanftes Mädchen gezogen! Sie hatten ihm das Herz seines Kindes verkrüppelt, und nun stand es nicht mehr in seiner Macht, sie zu ändern, nun musste er zu seinem tiefsten Leidwesen den Leichtsinn und die Bosheit eines irre geleiteten Gemüts mit ansehen, das er zartsinnig und edel zu erhalten vorgehabt hatte.
    Eines Tages kam Jeanne, um ein Buch zu holen, in Telliers Studierzimmer und machte sich das malitiöse Vergnügen, um Daniel herum zu irrlichtelieren und ihn so in Verlegenheit zu setzen. Sie hatte nämlich die Beobachtung gemacht, daß der schwarze Ritter seine Strenge in Gegenwart Andrer hervorkehrte, aber sehr blöde wurde, sobald er sich mit ihr allein befand. Diese Bemerkung war richtig, und er selber wußte recht gut, daß er ihr gegenüber feige war. Aber er hatte nicht nach den Gründen des plötzlichen Errötens, des Zitterns geforscht, das ihn befiel, wenn er ihr allein gegenüberstand. Diese Furcht vor ihr rührte aber daher, daß er wegen seiner Weltfremdheit sehr knabenhaft geblieben war, was ihn gegen das junge Mädchen in Nachteil setzte.
    Als Jeanne an jenem Tage eben die Hoffnung aufgab, ihn dahin zu bringen, daß er zu ihr aufblickte, und deshalb den Rückzug antreten wollte, blieb beim Umwenden ihr Kleid an einem Stuhl hängen und zerriß mit einem scharfen Geräusch. Da drehte sich Daniel unwillkürlich um und sah in Jeannes Gesicht, die ihm ruhig zulächelte, während sie ihr Kleid losmachte.
    Er sah ein, daß er etwas sagen müßte, und brachte eine Dummheit hervor:
    »Schade um das Kleid!« stammelte er.
    Jeanne warf ihm einen erstaunten Blick zu, dessen Bedeutung ihm nicht zweifelhaft sein konnte. »Was geht Sie das an?« dachte sie. Und laut fügte sie mit unliebenswürdigem Lächeln hinzu:
    »Sind Sie etwa ein Schneider, daß Sie nach solch einem Schaden fragen?«
    »Ich bin arm,« entgegnete Daniel mit ziemlicher Festigkeit, »und sehe es deshalb nicht gern, wenn teure Sachen zu Grunde gerichtet werden. Verzeihen Sie mir.«
    Der weiche Ton, in dem er dies sagte, rührte das junge Mädchen und sie trat näher an ihn heran.
    »Nicht wahr, Herr Daniel, Sie verabscheuen den Luxus?« fragte sie.
    »Verabscheuen? Nein, aber ich fürchte ihn.«
    »Wollen Sie sich Dreistigkeit anerziehen, daß Sie sich in der höheren Gesellschaft bewegen? Ich habe Sie öfter in solchen Kreisen bemerkt.«
    Daniel gab keine Antwort auf diese Frage, sondern wiederholte nur:
    »Ich fürchte den Luxus, weil er für das Herz und Gemüt gefährlich ist.«
    Diese Worte begleitete ein Blick, durch den Jeanne sich beleidigt fühlte.
    »Sie sind nichts weniger als galant,« bemerkte sie trocken und ging ärgerlich hinaus, während der arme Sekretär sich seiner Plumpheit und Grobheit schämte.
    Er sah ein, daß er sie nicht festzuhalten vermochte, und schalt sich, weil er es nicht verstand, ihr sanftere und ersprießlichere Lehren zu erteilen. Gelang es ihm auch hin und wieder, ihr Herz weich zu stimmen,

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