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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ein wilder Bube herumstrolchte, hüpfte und lachte. Dieses Ueberquellen der Jugendkraft blieb aber nur rein physischer Natur; das Herz regte sich nicht, nahm an dem neuen Leben keinen Anteil.
    Frau Tellier zuckte die Achseln, wenn sie ihre Nichte sich so vergnügt tummeln sah. Für sie war Le Mesnil-Rouge ein Verbannungsort, an den die Mode sie den Sommer über fesselte. Sie langweilte sich hier aristokratisch und brachte ihre Tage damit hin zu gähnen, und auszurechnen, wieviel Wochen sie noch von dem Winter trennten. Wurde ihr das Heimweh nach Paris geradezu unerträglich, so quälte sie sich, um an dem Anblick der Bäume Gefallen zu finden, so dehnte sie ihre Spaziergänge bis an das Ufer der Seine aus und bemühte sich, das Wasser zu bewundern.
    Allein diese heroischen Versuche endeten immer mit vollständiger Entmutigung. Sie konnte sich nichts Dümmeres und Unsaubreres als einen Fluß vorstellen und wunderte sich unbeschreiblich, wenn sie die Freuden des Landlebens rühmen hörte. Sie stimmte freilich, wenn in ihrer Gegentwart die schattigen Wälder und lieblichen Bäche gepriesen wurden, in das Loblied mit ein und gebärdete sich, als wolle sie vor Entzücken vergehen; aber in ihrem tiefsten Herzensgrunde hegte sie nur grimmigen Haß gegen das Gras, daß auf ihren Roben grüne Flecke hinterließ, und gegen die Sonne, die ihr den Teint verdarb.
    Ihre gewöhnlichen Promenaden beschränkten sich auf langsame Umkreisungen der Rasenplätze. Sie ging dabei sehr vorsichtig zu Werke und verwandte kein Auge von dem Kiesweg, aus Furcht, es könnte ihr etwas Unangenehmes und Gefährliches zustoßen. Denn schon das dürre Laub flößte ihr Grauen ein, und eines Tages schrie sie laut auf, weil ein Brombeerzweig sie am Knöchel leicht gekratzt hatte.
    Wenn sie Jeanne übermütig herumtoben sah, warf sie ihr Blicke voller Mitleid und Kummer zu. Sie hatte besseres erwartet von dem Mädchen, das den ganzen Winter hindurch so hübsch zu kokettiren verstanden hatte.
    »Gott erbarme sich, was bist Du ordinär, Jeanne! Man sollte wirklich glauben, Du amüsirst Dich! — Ach Gott, hier ist ein großes Loch voll Wasser; komm und reiche mir die Hand, damit ich hinübersteigen kann.«
    Das junge Mädchen bekam dann Rückfälle in ihre alten Gepflogenheiten. Sie fühlte sich wieder bewogen, sich ebenso distinguirt zu gebärden, so zu hüpfen und angstvoll zu schreien wie die Tante. Von wirklicher Angst war dabei nicht die Rede; sie richtete sich nur nach Frau Tellier, die sie sich in Sachen des wahren Chics zum Vorbild genommen hatte. Indessen kribbelte es ihr bald wieder in den Füßen; sie fing an, schneller zu trippeln, ja, in die Wassertümpel mitten hineinzutreten und sich diebisch über den Spaß zu freuen.
    Die größte Freude herrschte, wenn sich Besuch einstellte. An solchen Tagen strahlte Frau Tellier. Sie ließ dann die Gardinen zuziehen, um nicht mehr die Bäume vor Augen zu haben, und fühlte sich dann gewissermaßen nach Paris versetzt, wenn sie sich in dem seichten Geplauder der Weltdamen erging und sich an den Erinnerungen der Wintersaion berauschte. Bisweilen, — wenn sie vergessen hatte, die Fenstergardinen vorzuziehen, und mitten im Gespräch einen Blick nach dem fernen Horizont hinübergleiten ließ, — bekam sie eine wahre Angst, so klein kam sie sich Angesichts des unermeßlichen Raumes vor und so tief kränkte dieser Anblick ihren Frauenhochmut.
    Jeanne selber verhielt sich nicht gleichgültig gegen dergleichen Erinnerungen, die ihr Paris wieder vor die Seele zauberten. Sie blieb dann in dem großen Saal der Villa sitzen, fragte den Gast aus, kehrte auch ihre skeptisch satirische Laune wieder hervor und vergaß den Tag über die Lindigkeit der Luft, die heitere Himmelsbläue, die Lieblichkeit der Gewässer. Kurz, sie streifte dann den Wildfang ab und wurde wieder die hochmütige Schönheit, die Daniel so viel Sorge machte.
    Daniel flüchtete sich an solchen Tagen in das kleine Zimmer, das er sich im ersten Stock, über einer Art Taubenschlag, ausgewählt hatte. Hier arbeitete er, um seinen Kummer zu betäuben, an dem Buch des Abgeordneten oder er ruderte nach einer Insel hinüber und wartete dort, im hohen Grase gelagert, bis der Besuch ihm wieder seine liebe Tochter wiedergeben würde. Für den sanften, schlichten Mann war es eine unsägliche Lust, so in der freien Natur zu leben. Er hatte hier in Le Mesnil-Rouge die Umgebung gefunden, die ihm zusagte, und verlebte jetzt zum ersten Mal köstliche Stunden. Sein

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