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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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klaren Wein eingeschenkt hatte; dann wäre er den unangenehmen Menschen gleich los geworden. Indessen folgte er dem empfangenen Rat und trat an Frau Telliers Verehrerscharen heran.
    Die Dame prangte mit einer Jugend, die ihr viele Mühe und Arbeit gekostet hatte, und erheuchelte eíne übertriebene Kindlichkeit in ihrem Gesicht, das hier und da seine Runzeln aufwies. Von Zeit zu Zeit blickte sie verstohlen nach Jeanne hinüber und freute sich, wenn sie konstatirte, daß sie doch immer noch mehr Verehrer um sich hatte, als ihre junge Nichte. Die Kleine spielte in ihren Augen nur die Rolle eines Versuchs- und Vergleichsobjektes; sie bewies ihr, daß es mit ihrem Alter noch nicht zu schlimm war.
    Zu denjenigen ihrer Trabanten, die sich am aufmerksamsten, galantesten zeigten, gehörte auch Lorin. Der Heuchler war viel zu pfiffíg, der Nichte wegen, die er zwar liebte und bewunderte, mit der Tante zu brechen, die er vielleicht noch brauchen konnte.
    Indessen, so eitel Frau Tellier auch war, so erriet sie doch die innersten Gedanken ihres Courmachers und ließ es ihn auch merken.
    »Herr Lorin,« sagte sie, indem sie eine unverkennbare Ironie in den Ton ihrer Stimme und in den Ausdruck ihrer Gesichtszüge legte, »gehen Sie doch zu meiner Nichte hinüber. Die Arme sitzt ja ganz allein da und langweilt sich.«
    Aber sie bekam alsbald Grund, den Spott zu bereuen. Lorin, der sich ärgerte, daß sie ihn durchschaute, nahm sie beim Wort, und ihm folgten mehrere naive junge Herren, die froh waren, der jüngeren Schönheit huldigen zu dürfen. Auch Daniel schloß sich ihnen an. Jeannes Zerstreutheit und Gleichgültigkeit wich jetzt vor dem Bestreben, sich vor den andern Damen hervorzuthun. Ihre Züge belebten sich, ihre Augen erglänzten, ihre Líppen sprudelten von witzigen Einfällen und Bonmots, aber ihr Gemüt und Herz hatte keinen Teil an dem nervösen Geplauder.
    Daniel wurde weh ums Herz, während er ihr zuhörte. Er sagte sich, sie wäre nicht so dumm und eingebildet wie die andern jungen Damen, aber nicht minder gemütsarm. Frau von Rionne’s Furcht vor dem bösen Einfluß, den der Verkehr in der Gesellschaft auf Jeanne ausüben konnte, war nur allzu begründet; Daniel begriff, daß in diesen höheren Regionen das Herz zu schlagen aufhören mußte.
    Das Hauptopfer, das sich Jeanne zum Ziel ihres herben Spottes erkor, war Lorin.
    »Also, Sie sind fest überzeugt, das ich ein anbetungswürdiges Geschöpf bin?«
    »Anbetungswürdig,« wiederholte Lorin mit Nachdruck.
    »Würden Sie das auch in Gegenwart meiner Tante behaupten?«
    »Sie selber hat mich zu Ihnen geschickt, damit ich’s Ihnen sage.«
    »Ich bin ihr sehr verbunden, daß sie mir dieses Kompliment gönnt. Aber ich bin eine gutmütige Seele und will Ihnen deshalb eine Warnung zukommen lassen: Ihnen droht eine große Gefahr.«
    »Was für eine, wenn ich fragen darf?«
    »Die Gefahr, daß Sie einmal im Ernst meinen könnten, was Sie jetzt nur als Galanterie sagen.«
    “Wissen Sie was Neues? Ich gedenke ein Geländer um mich herum errichten zu lassen.”
    »Ein Geländer? Wozu denn?« fragte Lorin, den diese Art Geistreichelei aus dem Konzept brachte und ängstigte.
    Jeanne lachte und zuckte die Achseln.
    »Das könnten Sie nicht raten? Damit die Blinden nicht in den Abgrund der Mitgiftslosigkeit fallen.«
    »Ich verstehe nicht,« stammelte Lorin.
    Sie sah ihn voll an und er senkte vor ihr den Blick.
    »Desto besser,« versezte sie. »Nun sehe ich, daß Sie mir etwas vorgeredet haben: Sie finden mich nicht anbetungswürdig.«
    Sie brach ab und gab dem Gespräch eine andere Wendung.
    »Haben Sie von dem entsetzlichen Unglücksfall gehört,” fragte auf einmal Lorin, »der gestern beim Wettrennen passirt ist?«
    »Nein,« antwortete Jeanne. »Was ist denn vorgefallen?«
    »Ein Jockey hat sich das Rückgrat gebrochen, als er über das dritte Hindernis setzen wollte, und während der Unglückliche am Boden lag und vor Schmerz brüllte, lief das nächste Pferd über ihn weg und zermalmte ihm das eine Bein.«
    »Ich war dabei,« fiel ein junger Mann ein. »So etwas Schreckliches ist mir noch nicht vorgekommen.«
    Ein leichter Schauer ging über Jeannes ruhevolles Gesicht hin, aber sie kämpfte die bessere Regung nieder und sagte gleichgültig:
    »Der Mann ist ungeschickt gewesen. Wer sich in Acht nimmt, fällt nicht vom Pferde.« Daniel, der sich bis dahin schweigsam verhalten hatte, bäumte sich das Herz in der Brust auf bei der gefühllosen Bemerkung des jungen

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