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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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erfüllen.
    Acht Tage später war er in der Normandie, auf einem Landgut, das Tellier am Ufer der Seine besaß.
     

 
X.
    Telliers Landgut, Le Mesnil-Rouge, wie man es nannte, breitete sich auf dem sanften Abhang eines Höhenzuges aus, dessen Fuß die Seine bespülte. Das Wohnhaus war eines jener großen unregelmäßigen Gebäude, dem jeder Besitzer einen neuen Anbau hinzufügt, bis das Ganze mit seinen verschiedenartigen Dächern einem kleinen Dorfe ähnlich sieht. Man mußte eine Weile suchen, bis man in diesem Wirrwarr das ursprüngliche Hauptgebäude mit seinen nach hinten zurückgezogenen Flügeln herausfand. Die langen und schmalen Fenster gingen auf einen Rasenplatz hinaus, der sich bis an den Fluß hinzog.
    Hinter dem Hause lag ein großer Park, der den ganzen oberen Teil des Hügels einnahm. Die Bäume, deren dunkelgrüne Laubkronen sich von dem blauen Himmel scharf abhoben, bildeten einen ungeheuren Vorhang, der den weiten Horizont verdeckte.
    Auf der andern Seite des Flusses dehnte sich eine unabsehbare Ebene aus, auf der man grau abgetönte Dörfer in dichte Massen von Grün gebettet sah. Die Aecker bildeten große mattfarbige Vierecke, die hier und da von den dunklen Reihen der Pappeln durchschnitten waren.
    Zwischen der Ebene und dem Höhenzuge wand sich in großen Krümmungen die Seine hindurch, von Bäumen eingesäumt, die sie stellenweise dem Blick entzogen und neben dem Wasserlauf einen großen Laubstrom bildeten. Zu Füßen von Le Mesnil-Rouge schoß der Fluß schneller dahin zwischen seinen Ufern und den hier sehr zahlreichen Inseln, die ihn überall einengten und in eine Menge kleiner Arme spalteten. Die Vegetation gedieh hier sehr üppig, das Gras stand sehr dicht, die Bäume ragten majestätisch zu ungewöhnlicher Höhe empor. Alles war hier sich selbst überlassen, denn die Leute aus der Umgegend kamen nur einmal im Jahre her und nur um die Rabennester zu zerstören. In dieser lieblichen Einöde vernahm man nur das Geplätscher des Wassers, den Schrei des Eisvogels und das Gegirr der Holztauben. Noch schöner vielleicht als die Inseln waren die schmalen Flußarme, die sich zwischen ihnen hindurchzogen. Hier bildeten die herabhängenden Aeste der Bäume lauschige Alleen, grüne Gewölbe, durch deren hohe Decke man hier und da das Blau des Himmels schimmern sah und deren Innres ein grünliches Licht und angenehme Kühle erfüllte.
    Fuhr man auf die Thore dieser Gewölbe zu, so erweiterten sie sich allmählich und gestatteten einen Ausblick auf die Ferne, die in einem zarten violetten Dunst verschwamm.
    Dann sah man die breite Seine vor sich, in deren sonnenbeglänzten Fluten sich die bewaldeten Ufer dunkel abspiegelten, einen friedvollen weiten Horizont mit einfachen Umrissen, ein flaches Gelände unter einem breiten Himmelsdom, an dem sich weiße Wölkchen kräuselten. Wenn die Sonne an den heißen Junitagen höher emporstieg, erglänzte die ganze Landschaft in einem hellen goldigen Lichte. Die Pappeln allein bildeten schwarze Streifen an dem weißen Himmel.
    Angesichts dieses hehren, freundlichen Bildes mußte weihevoller Friede in das Herz jedes gefühlvollen Betrachters einziehen. Auch Jeanne stiegen, als sie am Tage nach ihrer Ankunft das Fenster öffnete und den Blick über das weite Gefilde schweifen ließ, die Thränen in die Augen. Sie eilte flugs hinunter, um die Brust in der linden Luft zu baden, die ihr ein unbeschreibliches Wohlgefühl zuwehte.
    Hier wurde sie wieder zum Kinde, hier zeigte es sich, daß der Trubel des verflossenen Winters, die fieberhaften Aufregungen des Gesellschaftslebens sie nur äußerlich gestreift, nicht aber in die innersten Schichten ihrer Seele eingedrungen waren. In der lieblichen Kühle des jungen Lenzes stellte sich die unbefangne Heiterkeit ihrer Schuljahre wieder ein. Ihr war zu Mute, als sei sie noch im Kloster, als sei die Zeit zurückgekehrt, wo sie sich frei von allen Sorgen unter den Bäumen des Schulhofs tummelte. Nur daß hier ein liebliches Gelände, Rasen und Haine und Inseln, die in dem Dunst des fernen Horizontes verschwanden, den Schulhof ersetzten.
    Wenn sie sich nicht geschämt hätte, würde sie am liebsten um die Stämme der alten Eichen Zeck und Versteck gespielt haben, so vollständig verjüngt fühlte sie sich. Ihre achtzehn Jahre, deren üppigen Uebermut sie in den Salons fein manierlich zurückgehalten hatte, sangen ein Jubellied. Sie empfand eine ungekannte Lebenslust und plötzliche Anwandlungen von Mutwillen, so daß sie wie

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