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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sprang die Lerche vom Kissen auf ihren Finger und stieß einen zaghaften Pfiff aus.
    »Wie machen Sie das?« fragte ich verblüfft.
    »Sie tun ja gerade so, als hätte ich den Sprung gemacht, und nicht der Vogel«, bemerkte sie und kicherte mädchenhaft.
    »Wie kommt es, daß sie nicht wegfliegen?«
    »Wenn Sie sich nicht allzu hastig bewegen, werden sie hier sitzenbleiben, bis Wesener kommt. Er sagt, sie bringen Krankheitserreger ins Zimmer, deshalb mögen sie ihn nicht.
    Sie fliegen dann fort und kommen erst am nächsten Morgen wieder. Manchmal verstecken sie sich auch hinterm Bett.«
    »Das ist fantastisch.«
    »Ist es das?« fragte sie verwundert. »Ich weiß nicht, tun das nicht alle Vögel?«

    Ich dachte: Wie lange ist es her, daß du zum letzten Mal in Freiheit warst? Keine Gefangene deines Körpers und dieses verrückten Paters.
    »Bedauern Sie mich bitte nicht«, flüsterte sie, ohne mich anzusehen. Ganz sachte blies sie unter die gefiederte Brust des Vogels. Das Tierchen wog sich voller Wohlbefinden vor und zurück.
    »Können Sie etwa auch Gedanken lesen?«
    Sie lachte leise. »Dazu gehört nicht viel. Jeder, der hierherkommt, bedauert mich.« Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »Abgesehen von Gertrud, vielleicht.«
    »Sie sind nicht wütend, daß ich gekommen bin, oder?«
    Jetzt trafen sich unsere Blicke. »Hat man Ihnen das nicht gesagt?« Sie imitierte Weseners Tonfall: »Das Fräulein Emmerick ist niemals wütend. Sie ist die Güte selbst.«
    »Das klingt verbittert.«
    »Ach was.« Sie schüttelte den Kopf. Ich sah ihr an, daß ihr die Bewegung weh tat. »Gott hat mir alles Glück der Welt geschenkt.« Erst später begriff ich, daß sie das ernst meinte.
    »Weshalb sind Sie zurückgekommen?«
    »Ich bin nicht sicher«, antwortete ich. »Ich glaube, ich wollte Sie einfach noch mal sehen.«
    »Um meinen Betrug aufzudecken?«
    »Ich denke nicht, daß Sie irgend jemanden betrügen.«
    Sie verzog das Gesicht. »Oh, natürlich nicht. Ich bin das Opfer eines übereifrigen Geistlichen, nicht wahr?«
    Sie hatte die unangenehme Angewohnheit, einen ständig mit den eigenen, unausgesprochenen Gedanken zu konfrontieren.
    »Vielleicht«, sagte ich.
    »Hat es einen Sinn, wenn ich Ihnen versichere, daß der Pater niemals Hand an mich gelegt hat?«
    Ich entschied, ebenso frei heraus zu sprechen, wie sie es tat.
    »Er könnte Ihnen die Wunden im Schlaf zufügen.«
    »Meinen Sie nicht, davon müßte ich aufwachen?« Jetzt klang sie belustigt. »Mein Lieber, wenn Sie schon versuchen wollen, hier einen Schwindel aufzudecken, dann werden Sie sich mit meiner Mitschuld abfinden müssen.«
    Ich stand da wie ein dummer Schuljunge. »Es tut mir leid.«
    »Ich wette, wenn ich Sie jetzt frage, was Ihnen leid tut, können Sie mir darauf keine Antwort geben.«
    »Wollen Sie, daß ich gehe?«
    »Im Gegenteil. Ich bin froh, daß Sie hier sind.«
    »Weil ich Ihnen im Traum erschienen bin?«
    Schmunzelnd sah sie zu, wie die zweite Lerche von der Fensterbank auf ihre Decke hüpfte. »Ich sagte, ich hätte Sie gesehen. Das heißt nicht, daß ich von Ihnen geträumt habe.«
    Sie blickte mich an, ein schalkhaftes Blitzen in den Augen.
    »Aber sicher sind Sie es gewohnt, daß Frauen von Ihnen träumen.«
    »Sie machen sich über mich lustig.«
    »Nicht im mindesten. Aber ich durchschaue Sie. Ist Ihnen das unangenehm?«
    Ich schüttelte den Kopf, obgleich ich es besser wußte. »Ich wünschte nur, diese Fähigkeit würde auf Gegenseitigkeit beruhen.«
    Sie legte den Kopf schräg wie ein junger Hund, der seinem Herrn zuhört, ohne ihn wirklich zu verstehen. »Denken Sie denn, ich hätte irgendwelche Geheimnisse vor Ihnen? Ich glaube, dafür sind wir einander viel zu ähnlich.«
    Meine Verwirrung wuchs. »Sind wir das?«
    »Sie sind zu höflich, um mir zu widersprechen«, sagte sie neckisch. »So wird unser Gespräch wohl nie gänzlich ungezwungen werden.«
    Ich deutete auf die beiden Lerchen. »Kennen Sie das Märchen von den zwölf Brüdern?«
    »Das, in dem die Königstochter ihre Brüder in Raben verwandelt?«
    »Ganz genau. Diese beiden Vögel sind so zahm, daß auch in ihnen zwei verzauberte Prinzen stecken könnten.«
    Sie lachte hell auf. »Aber das sind doch Vogeldamen!«
    »Oh«, entfuhr es mir, »dann müßten es wohl Prinzessinnen sein.«
    »Was Ihnen natürlich lieber wäre.«
    »Nur, wenn sie sich durch einen Kuß zurückverwandeln ließen.«
    Anna hob die zweite bandagierte Hand – sehr langsam, aber nicht schwerfällig –

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