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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ein wenig über Sie plaudern«, schlug sie vor. »Sie wollten mir von sich erzählen.«
    »Es gibt nicht viel, das wichtig wäre.«
    »Fangen Sie einfach mit Ihrem Geburtstag an.«
    »Der 8. September 1778«, sagte ich. »Nur ein Datum, nichts sonst.«
    »Im Gegenteil«, widersprach sie erfreut. »Auch mein Geburtstag ist der 8. September.«
    »Das erfinden Sie!«
    »Ich versichere Ihnen, es ist die Wahrheit. Nicht im selben Jahr, aber am gleichen Tag im gleichen Monat.«
    Ich zog mir den einzigen Stuhl im Zimmer heran und nahm Platz. »Ein Zufall, nichts sonst. Oder glauben Sie, Sie haben deshalb von mir geträumt?«
    »Nicht geträumt, das sagte ich doch. Aber gesehen habe ich Sie.«
    »Ich war nie zuvor in Dülmen.«
    »Ich sah Sie in einer Vision, die mein Schutzengel mir sandte.«
    »Dann sollten wir nicht länger von mir, sondern lieber von Ihrem Engel sprechen«, sagte ich. »Erzählen Sie mir von ihm.«
    Zu meiner Überraschung schien sie sich darauf einzulassen.
    Ihr Blick verklärte sich, ging durch mich, ja sogar durch die Mauern in meinem Rücken hindurch.
    »Erst sehe ich nur einen hellen Glanz, ein grelles Licht, das alles andere auslöscht. Daraus tritt er dann hervor, gekleidet in einen Priestertalar und ganz und gar durchscheinend.«
    »Der Talar oder er selbst?« Die Frage war mir
    herausgerutscht, bevor ich es verhindern konnte. Schnell fügte ich hinzu: »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht…«
    »Der Engel hat mich in die Wege Gottes eingeführt«, fiel sie mir leise ins Wort, als hätte sie gar nicht gehört, daß ich gesprochen hatte. Ihre Augen schauten noch immer in eine Ferne jenseits der Kammer. »Er hat mich vieles gelehrt, hat das Gute und Reine in mir geweckt, auf daß ich nie meine Taufunschuld beflecke. Durch ihn lernte ich das Streben nach höchster Vollkommenheit. Er machte mich zum Gefäß Gottes, erwählt zum Sühneleiden für die Sünden anderer.«
    Eben noch war sie so gelöst, beinahe kindlich verspielt gewesen. Jetzt war davon keine Spur mehr zu entdecken. Sie sprach ernsthaft, im Tonfall einer Predigt. In meinen Ohren klangen ihre Worte wie auswendig gelernt, dabei vollkommen leidenschaftslos, trotz des frommen Inhalts. Ich war sicher, daß Pater Limberg ihr diesen Sermon eingeimpft hatte.
    »Der Engel lehrte mich Buße üben und Strenge bezüglich meiner selbst«, fuhr sie fort, mehr und mehr wie in Trance. »Er behütet mich vor den verderblichen Einflüssen in meinem Inneren und in der Welt dort draußen. Er untersagte mir jede irdische Neigung, um mein reines Herz zu erhalten. Er gibt mir Kraft für meine Gebete und Fürbitten. Unter seiner Aufsicht übe ich mich in den göttlichen Tugenden.«
    Zögernd streckte ich die Hand aus, berührte ihren Arm.
    »Anna!«
    »Der Engel weist mich zurecht bei allen Gedanken, die von Gottes allgegenwärtigen Wundern abweichen. Er gab mir Vertrauen in meine eigene Stärke und zeigte mir, wie ich aus meinem Glauben Kraft für das große Werk des Herrn gewinnen kann.«
    »Anna, bitte!«
    Noch immer waren ihre Augen glasig, ihre Stimme in völligen Gleichklang verfallen. »Ich lernte vom Schutzengel, mich dem Willen des Schöpfers zu unterwerfen, seine Ziele zu den meinen zu machen und andere an diesem Glück teilhaben zu lassen. Durch ihn…«
    Ich sprang auf und packte sie an den Schultern. »Anna!«
    Die Vögel erschraken und schlüpften durch den Fensterspalt ins Freie. Draußen wurden sie zu zwei flatternden Flecken inmitten Hunderter anderer, als eine Windhose trockenes Laub emporwirbelte. Die Blätter umschwirrten sie wie blutsaugende Schmetterlinge.
    Anna bäumte sich auf. Ihre Lippen wurden grau, waren fest aufeinander gepreßt. Ihre Pupillen rollten nach oben, bis die Augen gänzlich von geädertem Weiß ausgefällt waren. Ihr Atem raste und gab rasselnde Geräusche von sich. Schließlich vibrierte ihr ganzer Leib unter der Decke. Sie streckte die Beine, preßte sie fest aneinander. Warf den Kopf in den Nacken, ballte die bandagierten Hände zu Fäusten, bis sich die Verbände dunkelrot färbten.
    Panik packte mich. Ich erwog, ihre Schwester zu Hilfe zu rufen, doch ich ahnte, daß das einfältige Frauenzimmer ebenso hilflos war wie ich. Statt dessen versuchte ich mit aller Kraft, Annas Oberkörper zurück ins Bett zu pressen. Unfaßbar, wieviel Kraft ihr geschwächter Leib mit einemmal aufbrachte!
    Immer ekstatischer wurden ihre Bewegungen. Immer lauter ihr Stöhnen und Keuchen. Krämpfe schüttelten ihren zerbrechlichen Körper,

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