Das Gelübde
als würde sie von einer Macht in ihrem Inneren in Stücke gerissen. Vor meinen Augen brach die Haut ihrer Lippen auf, als grüben sich unsichtbare Zähne in das schutzlose Fleisch. Ein Blutrinnsal lief aus den Mundwinkeln an ihrem weißen Kinderhals hinab. Wogen der Pein wühlten ihren Körper auf. Tränen sprühten aus ihren Augen, ergossen sich über die ausgehöhlten Wangen.
Die Verbände an ihren Händen waren jetzt vollkommen blutdurchtränkt. Ihre Rechte verschwand plötzlich unter dem Laken, zog eine rote Spur nach sich, als Anna sie hinab zum Unterleib schob, zwischen ihre Schenkel. Dort verharrte sie, schien sich den aufbäumenden Hüften entgegenzupressen, fügte sich dann in ihren Rhythmus.
Ich taumelte einen Schritt zurück vom Bett, überwand mich, stürzte abermals nach vorne. Mein Inneres war wie leergefegt.
Alle meine Versuche, Anna zu besänftigen, schienen zum Scheitern verurteilt. Die armlange Blutspur, schräg über das weiße Laken gezogen, glühte mir entgegen wie ein riesiger Schnitt, ein Säbelhieb aus dem Nirgendwo. Ich stürzte zur Tür, riß sie auf, schrie Gertruds Namen ins Treppenhaus. Sekunden später war sie da, eine Schürze wie ein Schlachter um den Bauch gebunden. Sie sah erst mich an, dann die aufgepeitschte Kranke in ihrem Bett. Grob schob sie mich mit beiden Händen zur Seite und trat dann an Annas Krippe. Sie holte aus und versetzte ihr zwei schallende Ohrfeigen. Auf jede Wange eine.
Anna bäumte sich ein letztes Mal auf, höher als zuvor. Ihr Mund klaffte ruckartig auf wie eine geplatzte Papiertüte. Kein Schrei kam über ihre Lippen. Statt dessen fiel sie still in sich zusammen und blieb verdreht inmitten des Bettzeugs liegen.
Gertrud zerrte an dem blutigen Laken, straffte es mit beiden Händen und hielt es mir vorwurfsvoll entgegen.
»Sehen Sie diese Sauerei?« Sie fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum, als wollte sie mich mit dem Blut ihrer Schwester einseifen. »Sehen Sie sich nur diese gottverfluchte Sauerei an!«
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7
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Gertrud ging und nahm das schmutzige Laken mit, nur um bald darauf zurückzukehren und mir ein frisches in die Hand zu drücken. Anna trug immer noch das befleckte Nachthemd, auch ihre Verbände waren durchgeblutet. Als ich Gertrud darauf hinwies, hob sie nur die Schultern und meinte, Wesener würde sich schon darum kümmern. Dann ließ sie uns allein.
Nachdem sie gegangen war – merkwürdigerweise ohne den Vorfall mit einem weiteren Wort zu erwähnen oder sich für meine Verwicklung darin zu interessieren –, erkundigte ich mich bei Anna, wo sauberes Verbandszeug aufbewahrt wurde.
»Wesener bringt jeden Tag welches mit«, erklärte sie. »Er fürchtet, Gertrud könnte sonst damit Schindluder treiben.«
»Aber es muß hier doch irgend etwas geben, mit dem wir Ihre Wunden verbinden können«, sagte ich beharrlich.
»Machen Sie sich nichts daraus«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Es ist ja nur Blut.«
Wut stieg in mir auf, Wut auf den Doktor, aber auch auf den Rest dieser scheinheiligen Beschützerschar. »Ich werde jetzt gehen und Verbände besorgen. Es muß doch irgendwo in dieser Stadt…«
»Nein.« Obwohl sie merklich geschwächt war, verriet ihr Tonfall, daß sie keinen Widerspruch duldete. »Lassen Sie nur.
Das Blut stört mich nicht. Ob innen oder außen – was macht das schon für einen Unterschied?«
»Die Wunden könnten sich entzünden.«
»Meine Wunden entzünden sich nie. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren.«
»Sie sind sehr unvernünftig.«
Der Schatten eines Lächelns erschien um ihre Mundwinkel.
»Wesener wird froh sein, daß er etwas zu tun hat, wenn er herkommt. Er ist immer sehr verlegen.«
»Den Eindruck hatte ich aber gar nicht.«
»Glauben Sie mir, es ist so. Er weiß nicht recht, worüber er mit mir sprechen soll. Manchmal glaube ich, er fürchtet sich.«
»Vor Ihnen?«
»Vor den Wunden. Und vor dem, der sie mir zufügt.«
Ich betrachtete ihre blutigen Hände. Sie hatte sie achtlos auf das frische Laken gelegt; vielleicht die einzige Art von Rache, die sie sich gegenüber Gertrud gönnte. Ich war sicher, hätte ich sie darauf angesprochen, wäre sie über sich selbst erschrocken.
Noch etwas anderes war mir aufgefallen. »Ihre Verletzungen sind angeblich Stigmata, und doch nennen Sie sie selbst immer nur Wunden. Hat das einen Grund?«
Sie schwieg für eine Weile, bis ich schon fürchtete, meine Frage hätte sie verärgert. Dann aber blickte sie mich an, sah mir geradewegs in die Augen
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