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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und strich mit dem Zeigefinger über ein winziges Vogelköpfchen. »Den Kuß müßten Sie übernehmen –
    nur für den Fall, daß doch ein Prinz daraus wird. Ich bin Augustinerin, vergessen Sie das nicht.«
    »Meinen Sie das ernst?«
    Sie nickte auffordernd. »Kommen Sie her.«
    »Ich soll einen Vogel küssen?«
    »Solange es hier keine Prinzessin gibt, werden Sie damit vorliebnehmen müssen.«
    »Sie sind verrückt«, sagte ich lachend, trat aber fügsam an ihre Bettkante.
    »Sie müssen sich bücken«, bat sie. »Ich kann den Vogel nicht bis zu Ihrem Gesicht heben.«
    Zögernd beugte ich mich vor.
    »Einen Kuß«, sagte sie. »Schnell!«
    »Er wird wegfliegen.«
    »Er ist eine sie. Und sie wird nicht wegfliegen. Vielleicht mag sie Italiener.«
    »Ich bin kein…«
    »Nun kommen Sie schon!« unterbrach sie mich ungeduldig.
    Meine Lippen berührten einen angelegten Flügel des Vögelchens. Das zutrauliche Wesen pulsierte wie ein gefiedertes Herz. Eine fremdartige, verwirrende Erregung durchfuhr mich.
    Anna blickte die kleine Lerche freudestrahlend an.
    »Tatsächlich, eine Prinzessin! Wer hätte das gedacht?«
    Ich ging neben der Krippe in die Hocke, mein Blick wechselte verwundert von dem Vöglein zu Anna. »Aber sie ist immer noch ein Vogel.«
    »Sie ist eine Prinzessin! Jeder, der ein wenig Fantasie hat, kann das sehen.«
    »Wäre sie eine, wäre sie zu schwer für Ihren Finger.«
    »Papperlapapp.« Gerührt vor Glück vollführte sie mit dem Zeigefinger einen unmerklichen Wink. Der kleine Vogel sprang mit zwei lustigen Hüpfern auf die Fensterbank und plusterte sich im Schein der Herbstsonne wohlig auf. Sein Schwesterchen setzte sich daneben.
    »Wollen Sie ihr einen Namen geben?« fragte ich.
    »Glauben Sie, eine Prinzessin würde sich das gefallen lassen?«
    »Es käme wohl auf den Versuch an.«
    Anna überlegte eine Weile, dann sagte sie. »Ich werde darüber nachdenken. So was sollte man nicht überstürzen.«
    »Gewiß nicht. Mögen Sie eigentlich Märchen?«
    »O ja!« Ihr bleiches Gesicht schien vor Verzückung zu leuchten. »Meine Mutter hat mir früher welche erzählt, als ich noch ein Kind war. Und manchmal, wenn mein Schutzengel mich durch die Sphären des Herrn führt, komme ich mir selbst vor wie in einem Märchen.«
    Beinahe gegen meinen Willen schaute ich mich in der Kammer um. »Ist er jetzt auch hier, Ihr Schutzengel?«
    »Stets und ständig«, sagte sie. »Aber nicht immer ist er sichtbar. Er verläßt mich nie, schon seit meiner Kindheit.«
    »Können auch andere ihn sehen?«
    »Was für eine Frage!«
    Ich zuckte bedauernd mit den Schultern.
    »Niemand sieht den Schutzengel eines anderen«, rügte sie mich.
    »Spricht er oft zu Ihnen?«
    »Sie reden mit mir, als wäre ich verrückt. Das gefällt mir nicht.«
    »Das wollte ich nicht, verzeihen Sie.«
    »Erzählen Sie mir lieber von sich selbst.«
    »Ich schreibe. Vor allem Gedichte und Märchen. Deshalb habe ich Sie vorhin danach gefragt.«
    »Limberg sprach von einem Buch…«
    »Er mochte es nicht besonders, fürchte ich.«
    Sie lachte auf. »Er hat gesagt, es handele allein von den Gelüsten seines Verfassers.«
    »Es wirft ein bezeichnendes Licht auf einen Priester, wenn sein ganzes Augenmerk auf solche Dinge gerichtet ist.«
    »Sie tun dem armen Limberg unrecht. Er ist allein um die Sittlichkeit seiner Mitmenschen bemüht.«
    »Ich hoffe, er verliert dabei nicht den Sinn für die eigene.«
    »Sie müssen einiges durchgemacht haben, wenn Sie eine so schlechte Meinung von einem Menschen haben, den Sie überhaupt nicht kennen.«
    »Er hat mir einen Besuch abgestattet.«
    »Ich weiß. Er kam danach zu mir und erzählte mir davon.«
    Sicher hatte Limberg jedes Wort wiederholt. Das war mir äußerst unangenehm.
    »Es muß Ihnen nicht peinlich sein«, sagte sie sanft.
    »Allmählich glaube ich wirklich, daß Sie Gedanken lesen.«
    »Ich hab’s Ihnen angesehen. Außerdem habe ich versucht, mich in Ihre Lage zu versetzen. Niemand würde es mögen, wenn Limberg so etwas zu einem sagte und ein anderer davon wüßte.«
    »Glauben Sie denn, daß er recht hat?«
    »Im Gegensatz zu Ihnen werde ich mir kein vorschnelles Urteil anmaßen.«
    »Sind Sie denn immer nur gerecht und gütig?«
    »Wenn ich es nicht wäre, wer sonst? Der Herr hat mich zu seiner Erwählten auserkoren.« So, wie sie das sagte, wirkten ihre Worte weder verbohrt noch stolz. Es war einfach eine Feststellung, und Anna klang dabei nicht einmal besonders glücklich.
    »Lassen Sie uns noch

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