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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und sagte: »Stigmata sind Geschenke Gottes, gnadenvolle Gaben. Aber ich frage mich manchmal, ob meine Verletzungen nicht vielleicht etwas anderes sind.«
    Also doch, dachte ich. Sie zweifelte selbst daran.
    Und wieder schien sie sofort zu wissen, was in mir vorging.
    »Sie mißverstehen mich! Ich weiß, daß Gott mir diese Wunden zufügt. Die Frage ist vielmehr, warum er es tut.« Sie senkte ihre Stimme. »Manchmal denke ich, es sind keine Geschenke.
    Keine Gnade für eine treue Dienerin.«
    »Sondern?«
    Ihr Blick wurde traurig. »Eine Bestrafung.«
    »Wofür sollte Gott Sie bestrafen? Ich kenne niemanden, der ihm treuer ergeben ist als Sie.«
    »Für das…« Sie zögerte, überlegte, begann dann von neuem.
    »Für das, was ich sehe. Wenn ich so bin wie vorhin.« Ihre Stimme klang jetzt stockend, und die Frage, ob sie wirklich mit mir darüber sprechen sollte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
    Ich beugte mich vor und widerstand in letzter Sekunde dem Wunsch, eine ihrer Hände zu ergreifen. »Was ist es, das Sie sehen?« fragte ich leise.
    »Sie dürfen mit niemandem darüber reden. Versprechen Sie das.«
    »Sie können sich auf mich verlassen.«
    Sie seufzte schwach. »Ja, ich weiß.« Sie erklärte nicht, wie sie diese Worte meinte, doch ich ahnte, daß es etwas mit der Vision zu tun hatte, in der ich ihr erschienen war.
    »Sehen Sie«, fuhr sie fort, und jetzt sprach sie fast im Flüsterton, begleitet von nervösen Blicken zur geschlossenen Tür, »in meinen Visionen, so wie eben, erscheint mir die Jungfrau Maria.«
    »Davon hat mein Bruder mir erzählt. Das ist einer der Gründe, weshalb die Leute aus dem ganzen Land hierher pilgern. Sie wollen die Frau kennenlernen, die der Mutter Gottes begegnet.«
    »Wenn nur einer wüßte, wie ich ihr begegne.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Die Jungfrau Maria… sie erscheint mir nicht als…«
    Abermals verstummte sie, und ich wartete geduldig eine Weile, ehe ich fragte: »Nicht als was?«
    »Nicht als Jungfrau.« Ein Beben ging durch ihren Körper, als hätten die Worte sie all ihrer Kraft beraubt. Erschöpft sank sie tiefer in ihre Kissen.
    »Ich verstehe nicht…«
    Ihre Augen waren jetzt geschlossen, vielleicht, weil sie sich schämte. Vielleicht auch, weil sie Angst hatte. »Sie verstehen sehr gut, Pilger. Pater Limberg hat mir erzählt, daß Sie sich mit Frauen auskennen.« Sie unterdrückte meinen Widerspruch, indem sie kraftlos den Zeigefinger an ihre Lippen führen wollte; es gelang ihr nicht ganz, ihre Hand sackte zurück auf die Decke. »Maria ist eine schöne Frau. Haben Sie das gewußt?«
    »Ich…«
    »Nein, natürlich nicht.« Sie klang eine Spur verächtlich, eine Regung, die ihr sonst völlig fremd zu sein schien. »Woher sollten Sie auch?«
    »Meinen Sie mit ›schön‹ wie auf den Ikonen und Buchmalereien?«
    »Nein.« Ich hatte geahnt, daß sie das sagen würde. »Ich meine wirklich schön. Nicht die asketische Heilige, die von den Altären herablächelt, sondern die herrlichste Gestalt, die man sich vorstellen kann. Sie ist so schön wie keine andere.
    Und so…« Sie verstummte, nur um einen Herzschlag später so leise wie ein Lufthauch hinzuzufügen: »…so zärtlich.«
    Das Wort schien im Raum zu schweben wie eine weiße Daune, die sich erst nach einer Weile langsam, ganz langsam, herabsenkte. Ich wünschte mir, Anna würde die Augen öffnen, damit ich hineinsehen konnte. Aber diesen Gefallen tat sie mir nicht.
    »Ist Ihr Schutzengel während dieser Begegnungen anwesend?« fragte ich ruhig.
    »Ich kann ihn dabei nicht sehen«, flüsterte sie. Das Vertrauen, das sie mir schenkte, machte mich verlegen -und es erschreckte mich. »Wenn Sie den Engel nicht sehen können, bedeutet das, daß auch er Sie nicht sehen kann?«
    »Ich glaube, er weiß alles. Er spricht nie davon. Aber er weiß es, ganz sicher.«
    »Und wegen dieser Träume, verzeihen Sie, wegen dieser Visionen soll Gott Sie bestrafen?«
    »Ich bin eine Sünderin.«
    »Aber Sie können nichts dafür! Ihr Geist spielt Ihnen Streiche. Niemand kann darauf Einfluß nehmen.«
    Anna blieb beharrlich. »Ich bin unrein.«
    »Das sind Sie nicht!« Ich erforschte mein eigenes Empfinden und kam zu dem Schluß, daß ich eigentlich gar nicht wußte, was ich empfand. Verwirrung, Irritation. Und, gegen meinen Willen, eine ganz leichte Spur von Erregung.
    »Ich habe es verdient, dafür zu leiden«, wisperte sie gedankenverloren.
    »So ein Unsinn! Wir alle haben manchmal solche Vorstellungen.«
    Sie

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