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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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riß die Augen auf, und darin stand Panik wie bei einem Fuchs, der seinen ausgeräucherten Bau durch die allerletzte Öffnung verläßt und seinem Jäger dabei geradewegs vor die Flinte läuft. »Vorstellungen? So nennen Sie das?« Sie lachte bitter auf. »Wenn Pater Limberg davon wüßte, hätte er sicher eine andere Bezeichnung dafür.«
    »Pater Limberg!« entfuhr es mir zornig. »Liebe Güte, was sind Sie ihm schon schuldig, daß Sie ihn derart fürchten müssen?«
    Unverständnis lag in ihrem Blick. »Fürchten? Aber das tue ich gar nicht.«
    »Natürlich fürchten Sie ihn! Sind Sie sicher, daß Sie ihm nie von Ihren Visionen erzählt haben? Vielleicht ist er derjenige, der es für nötig hält, Sie dafür zu bestrafen.«
    »Ach, mein Pilger«, stieß sie seufzend aus, fast ein wenig erheitert. »Sie machen sich das alles sehr einfach.«
    »Ich spreche nur aus, was ich sehe. Keinen rachsüchtigen Gott. Nur einen besessenen Priester, der es nicht verwinden kann, daß sein Schäfchen von einer Frau träumt.«
    Sie wiegte langsam den Kopf von einer zur anderen Seite. Es sah aus wie ein fremdartiges Ritual. »Wenn ich es nicht besser wüßte, müßte ich jetzt bereuen, daß ich Ihnen je davon erzählt habe.«
    »Sie können mir vertrauen, glauben Sie mir.« Noch während ich die Worte aussprach, wußte ich schon, daß Anna etwas ganz anderes gemeint hatte. Sie zweifelte nicht an meiner Verschwiegenheit, nur an meinem Verständnis. Das verletzte mich, aber es machte mich auch ein wenig offener für das, was sie sagte.
    »Wissen Sie, daß Sie der erste Ungläubige sind, der diese Kammer je betreten hat? Sogar Gertrud glaubt an Gott.« Sie lächelte schmerzlich. »An Gott, aber nicht an mich.«
    »Limberg hat schon bereut, daß er mir überhaupt die Erlaubnis gab, Sie zu besuchen«, sagte ich.
    »Dann hätte ich nie erfahren, daß es Sie wirklich gibt.«
    »Bisher war ich Ihnen keine große Hilfe.«
    »Ich hätte nie einem anderen davon erzählen können. Sie alle kommen nur her, um mit mir zu beten und etwas über das Leben Marias zu hören. Die ganze Wahrheit will niemand wissen.«
    »Weil diese Leute das, was Sie sagen, für die ganze Wahrheit halten.«
    »Es ist ein Teil davon. Aber die Kehrseite kennt keiner außer Ihnen.«
    »Sie sollten das nicht verurteilen.«
    »Ich verurteile niemanden.«
    »Nur sich selbst.«
    Sie nickte schwach. »Vielleicht, ja. Aber damit muß ich leben.« Zitternd hob sie ihre Hand von der Decke, als wollte sie sie mir entgegenstrecken. Bevor ich sie ergreifen konnte, fiel sie kraftlos zurück aufs Bett. »Schauen Sie aus dem Fenster«, sagte sie. Ihre Stimme wurde immer schwächer und heiserer; wahrscheinlich hatte sie seit Monaten nicht mehr so viel gesprochen wie heute. »Können Sie den Kirchturm sehen?«
    Ich blickte über sie hinweg durch die Staubschlieren auf der Scheibe. »Ja, ich sehe ihn.«
    »Ich nicht. Nicht von hier aus. Ich höre nur seine Glocken.«
    »Möchten Sie, daß ich Ihr Bett an die Seitenwand ziehe? Von dort aus müßten sie eine gute Aussicht haben.«
    »Würden Sie das tun?«
    »Warum nicht?«
    Bevor sie es sich anders überlegen konnte, machte ich mich daran, die große Holztruhe zur Seite zu schieben. Ich hatte erwartet, sie würde schwer sein; tatsächlich aber war sie vollkommen leer, und es fiel mir leicht, sie zu bewegen.
    Nachdem ich den nötigen Platz geschaffen hatte, trat ich zurück an Annas Korbkrippe. »Wird es Ihnen nicht weh tun, wenn ich Sie mitsamt dem Bett dort rüberziehe?«
    »Machen Sie sich nichts daraus. Ich habe Schlimmeres ertragen.«
    Vorsichtig, so behutsam wie möglich, zog ich die Krippe Stück für Stück zur anderen Wand hinüber. Dabei mußte ich das Bett in einem Viertelkreis drehen, so daß das Kopfende zur Tür wies; nur so konnte Anna zum Fenster hinausschauen.
    Sie war sehr tapfer. Ich sah ihr an, daß ihr die ruckenden Bewegungen Schmerzen bereiteten. Aber kein Wort der Klage, nicht einmal ein Stöhnen, kam über ihre Lippen.
    Schließlich zog ich die Truhe dorthin, wo das Bett gestanden hatte, unter das Fensterbrett. Zufrieden, aber auch ein wenig besorgt, betrachtete ich mein Werk.
    Annas Gesicht strahlte vor Verzückung, trotz ihres Leidens.
    Ihr Blick war fest auf das spitze Dach des Kirchturms gerichtet, der sich hoch über den Dächern der Stadt erhob. »Er ist wunderschön«, flüsterte sie benommen.
    Es war ein gewöhnlicher Kirchturm, fand ich, doch im selben Augenblick da sie die Worte aussprach, erschien er auch

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