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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mir einen Moment lang prachtvoller und herrlicher als jeder andere. Dieses Gefühl verwirrte mich, mehr noch die Feststellung, daß Annas Begeisterung so vorbehaltlos auf mich abfärbte.
    Nach einer Weile fand ihr Blick zurück zu mir. »Doktor Wesener wird gleich hier sein«, sagte sie. »Es ist besser, wenn Sie gehen.«
    »Möchten Sie, daß ich wiederkomme?«
    »Bitte«, sagte sie und klang mit einemmal sehr müde, »bitte, gehen Sie jetzt.«

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    8
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    Auf dem Rückweg zum Marktplatz nahm ich die falsche Abzweigung und verirrte mich im Gewirr einiger Gassen.
    Mit einemmal befand ich mich auf einem kleinen, von hohen Fassaden umschlossenen Platz. Das braune Herbstlaub reichte mir hier fast bis zu den Knien. An manchen Stellen vor den Mauern der Häuser hatten sich mächtige Verwerfungen gebildet, brusthohe Laubwälle. Zwischen ihnen kam ich mir vor wie in einem Schützengraben. Mit jedem Schritt, den ich machte, zerstoben Dutzende Blätter unter meinen Stiefeln, und ein scharfer Wind blies die winzigen Fetzen davon.
    Ich erwog, an einer Tür zu klopfen und mich nach dem Weg zum Gasthof am Markt zu erkundigen, doch alle Eingänge waren hinter den Blätterwällen verschwunden. Nur hier und da ragte der obere Rand eines Türrahmens hinter den Laubkuppen hervor, sinkende Schiffe, für die es keine Rettung zu geben schien. Ich rief: »He, hört mich jemand?«, doch die Häuser waren allesamt wie ausgestorben.
    Es war früh am Nachmittag, doch das ferne Viereck des Himmels, weit, weit über mir, schien düsterer als noch vor wenigen Minuten, als ich Annas Haus verlassen hatte. Die Luft war drückend, ungemein schwül und warm, aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich allmählich ein wenig unruhig wurde.
    Als ich mich umwandte, um das Karree auf demselben Weg zu verlassen, auf dem ich hereingekommen war, sah ich den Einschnitt zwischen den Häusern nicht mehr. Der Platz hatte nur einen einzigen Zugang gehabt, und der war plötzlich unauffindbar. Mehrmals drehte ich mich im Kreis, suchte erst verwundert, dann immer aufgebrachter nach einem Ausweg.
    Die Schatten der Fassaden waren bodenlos geworden, der dunkelblaue Himmel viel zu weit entfernt, um mit seiner Weite die bedrückende Enge dieses Ortes aufzuheben.
    Noch einmal rief ich, und abermals erhielt ich keine Antwort.
    Der Häuserring konnte sich doch nicht einfach geschlossen haben! Es mußte das Laub sein, dieses verfluchte Laub und die Schatten, die mich mit ihrem Gaukelspiel narrten.
    Blindlings stolperte ich durch das Blättermeer, in jene Richtung, in der ich den Ausgang vermutete. Erst mit den Füßen, dann auch mit Händen und Armen, grub ich eine Schneise in einen der Laubwälle. Die Blätter waren federleicht, aber so trocken, daß sie ständig umherwirbelten, dorthin zurück, wo ich sie gerade erst fortgeschaufelt hatte. Es war, als beseelte sie ein eigener Wille, der sich gegen mich gewandt hatte. Schwitzend, fluchend und immer verzweifelter schlug ich meine Schlacht gegen das schreckliche Laub, grub und trat und scharrte, und als es mir schließlich gelang, eine tiefe Kerbe in den losen Wall zu treiben, fand ich an ihrem Ende nichts als hartes Mauerwerk. Keine Gasse, kein Spalt. Nichts. Dabei hätte ich schwören können, daß…
    Nein, keine Zeit zum Grübeln. Weiter graben, an einer anderen Stelle. Dem Laub keinen Sieg gönnen. Ihm zeigen, daß es nichts ist als totes Blattwerk. Unbeseelte, abgestorbene Natur.
    Ich teilte den Wall einige Schritte weiter links, wo mir die Dunkelheit über seiner Kuppe einen Ausgang verhieß.
    Ebensogut aber mochte es der Schatten sein, der an den Mauern emporkroch wie etwas Flüssiges, Lebendiges gar, das sich in gewaltigen Schüben aus den Blättern löste und über Gestein und Fenster ergoß. Ich hatte plötzlich Angst, daß es die Dächer erreichen und von dort aus auf das Himmelsviereck überspringen könnte, eine gigantische schwarze Blase, die mich in sich aufnahm und verschluckte.
    So grub ich weiter, schneller, von Panik getrieben. Tief stießen meine Hände in die Blätterflut, schaufelten alles, was sie fanden, achtlos zur Seite, während mich das aufstiebende Laub umwogte wie eine düstere Wolke. Mehrfach mußte ich innehalten, gepeinigt von heftigen Hustenkrämpfen, wenn mir einige der winzigen Blätterstückchen in den Hals gerieten.
    Auf halbem Wege zur anderen Seite des Walls stießen meine Finger inmitten der Blätter auf etwas, das sich anders anfühlte.
    Seidiger, faseriger. Vorsichtig

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