Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
sich.«
»Wenn du ein Pubjok wärst, hättest du mir schon längst den Arm gebrochen.«
»Such dir einen Arm aus und ich tu dir den Gefallen«, erwiderte ich, obwohl ich es selbst nicht glaubte.
»Zeig mal her«, sagte er und nahm die Marke. Er betrachtete das Bild der Schwebenden Mauer, begutachtete das Gewicht des Silbers und fuhr mit dem Daumen über den Lederrücken. »In Ordnung, Pubjok. Ich besorg dir dein Ladegerät, aber den Ring kannst du behalten.« Er hielt die Marke hoch. »Ich tausche gegen das hier.«
*
Am nächsten Morgen hielten zwei Kipplaster vor unserem Wohnblock Heiliger Ahnenberg Paektu in der Sin˘uiju-Straße und luden bergeweise Erde auf dem Gehweg ab. Durch meine Arbeit für die Abteilung 42 blieb ich meist von solchen Aufgaben verschont, doch diesmal würde daraus nichts werden, gab mir der Blockwart zu verstehen. »Gras zu Fleisch« war eine stadtweite Kampagne, da hatte er nichts zu sagen. Der Blockwart misstraute mir sowieso, weil meinetwegen einige Bewohner abgeholt worden waren. Außerdem dachte er, dass ich aus Paranoia im obersten Stockwerk wohne, obwohl ich eigentlich nur meine Eltern vor den schlechten Einflüssen im Haus schützen will.
Also hing ich zwei Tage lang in einer Menschenkette fest, die Eimer und Einkaufsbeutel mit Erde die Treppe hoch auf das Dach beförderte. Manchmal hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die alles beschrieb, was ich erlebte, als würde sie simultan meine Biografie verfassen. Ich hatte nur seltenGelegenheit, diese Stimme zu Papier zu bringen – als der zweite Tag zu Ende ging und ich im Erdgeschoss ankam, nur um festzustellen, dass ich als Letzter im mittlerweile kalten und grau-braunen Wasser baden musste, war die Stimme verschwunden.
Für meine Eltern kochte ich scharfe Rüben mit ein paar Pilzen, die eine alte Witwe aus dem ersten Stock in Kimchi -Dosen züchtete. Die Stromzufuhr war unregelmäßig, und ich befürchtete, das orangefarbene Licht am Ladegerät würde niemals auf grün schalten. Meine Mutter teilte mir mit, dass Kim Jong Il auf dem Golfplatz mit dem Außenminister von Burundi elf Mal hintereinander mit einem einzigen Schlag eingelocht hatte. Die Nachrichten über die Armut in Südkorea deprimierten meinen Vater. Über den Lautsprecher war ein ausführlicher Bericht zur Hungersnot im Süden gesendet worden. Der Geliebte Führer schickt ihnen Hilfslieferungen , erzählte er mir. Ich hoffe, sie halten bis zur Wiedervereinigung durch. Von den Pilzen färbte sich mein Urin bräunlichrosa.
Als das Dach endlich mit zwanzig Zentimetern Erde bedeckt war, hatte ich nur noch eins im Kopf: In die Abteilung 42 zu fahren, um zu sehen, ob sich Kommandant Ga erholt hatte.
»Nicht so eilig«, sagte der Blockwart am nächsten Morgen. Er zeigte vom Hausdach auf einen Lastwagen voller Ziegen vor dem Haus. Weil meine Eltern zu schwach waren, musste ich auch ihren Anteil an der Arbeit übernehmen. Ein Seil und ein Flaschenzug wären sicher am zweckmäßigsten gewesen, aber nicht jeder hier war Absolvent der Kim-Il-Sung-Universität. Stattdessen trugen wir die Tiere auf den Schultern und hielten sie an den Beinen gepackt, als wären es Tragegriffe. Bis zum zehnten Stock wehrten sie sich wie verrückt, dann gaben sie in der Dunkelheit des Treppenhausesnach, und schließlich ließen sie in totaler Resignation die Köpfe hängen. Obwohl die Ziegen nach außen ein Bild völliger Unterwerfung abgaben, wusste ich, dass sie aufmerksam und angespannt waren. Was man nämlich nicht sehen konnte, das spürte ich ganz deutlich hinten an meinem Nacken: ihre wie verrückt pochenden kleinen Herzen.
Es würde Wochen dauern, bis das Gras gewachsen war, also wurde ein Team zusammengestellt, das täglich im Mansu-Park für die Ziegen Blätter sammeln sollte. Aber der Blockwart wusste, dass er meine Geduld nicht überstrapazieren durfte. Wir sahen zu, wie die Ziegen auf dem Dach misstrauisch ihre Runden drehten. Eine von den Kleinen wurde über den Rand gestoßen. Sie veranstaltete den ganzen Weg bis nach unten ein furchtbares Geschrei, aber die übrigen Ziegen taten, als wäre nichts geschehen.
Ich verzichtete aufs Baden, um schnell zum Markt auf der Yanggak-Insel zu fahren. Es war eine Schande, wie wenig ich für den Ring von Genosse Buc bekam. Anscheinend hatte jeder einen Ehering zu verkaufen. Und so saß ich nach Ziege stinkend auf dem Rückweg in der U-Bahn, mit nur einem Sommerkürbis, ein bisschen getrocknetem Tintenfisch, einer Papiertüte mit chinesischen
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