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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Pfiff erklingen. Wir konnten sehen, wie sein Fahrer vor dem Tor den Kofferraum des Mercedes öffnete. Er hob etwas heraus, und die Wärter öffneten ihm das Tor. Er kam auf uns zu und trug etwas, das extrem schwer zu sein schien.
    Wie heißt du?, fragte mich Ga. Warte, das ist egal. Ich erkenne dich da dran. Er berührte mit einem Finger meine Brust. Er fragte mich: Hast du jemals den Lagerkommandanten einen Fuß in das Bergwerk setzen sehen?
    Ich schaute zum Lagerkommandanten, der mich wütend anfunkelte. Nein , sagte ich zu Kommandant Ga.
    Der Fahrer kam mit einem großen, weißen Stein an. Er wog mindestens einen halben Zentner. Nehmen Sie ihn , forderte Kommandant Ga den Lagerkommandanten auf. Halten Sie ihn hoch, damit ihn alle sehen können! Und der Lagerkommandant wuchtete den Gesteinsbrocken unter großen Mühen auf seine Schulter, wo er seinen Kopf um ein gutes Stück überragte. Dann hielt Kommandant Ga den Detektor an den Stein, und alle konnten hören, wie das Gerät vor lauter Knistern fast explodierte.
    Kommandant Ga sagte zu mir: Sieh ihn dir gut an – weiß und wie Kreide. Dieser Stein ist das Einzige, was uns interessiert. Hast du solches Gestein im Bergwerk gesehen? Ich nickte. Da lächelte er. Die Experten haben gesagt, dass das h ier der richtige Berg ist, dass es da unten dieses Zeug gibt. Jetzt weiß ich, dass es stimmt.
    Was ist das?, fragte ich ihn.
    Das ist die Zukunft Nordkoreas, erwiderte er. Unsere Faust, die wir den Yankees reinwürgen werden.
    Dann wandte sich Ga wieder an den Lagerkommandanten. Dieser Häftling wird ab jetzt Augen und Ohren für mich offenhalten. Ich komme in einem Monat wieder, und bis dahin wird ihm nichts zustoßen. Sie werden ihn so behandeln, wie Sie mich behandeln würden. Haben Sie das verstanden? Wissen Sie, was mit dem letzten Kommandanten dieses Lagers passiert ist? Wissen Sie, was ich mir für ihn ausgedacht habe? Der Lagerkommandant schwieg.
    Kommandant Ga gab mir das Gerät. Wenn ich wiederkomme, will ich einen weißen Berg von diesem Zeug sehen , sagte er. Falls der Lagerkommandant diesen Stein ablegt, bevor ich wiederkomme, erzählst du es mir. Um nichts in der Welt darf er diesen Stein ablegen, hörst du? Beim Abendessen sitzt der Stein auf seinem Schoß. Wenn er schläft, hebt und senkt er sich auf seiner Brust. Wenn er scheißen geht, scheißt der Stein mit. Ga stieß den Lagerkommandanten an, der sich stolpernd mühte, unter der Last nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann ballte Kommandant Ga die Faust –«
    »Halt«, unterbrach Sun Moon. »Das reicht. Ich kenne meinen Mann.«
    Einen Moment lang war sie still, als müsste sie etwas verdauen. Dann drehte sie sich auf die Seite zu ihm, sodass der Abstand zwischen ihnen kleiner wurde. Sie hob den Ärmel seines Nachthemds an und befühlte die tiefen Furchen der Narben an seinem Bizeps. Dann legte sie die Hand flach auf seine Brust und spreizte die Finger über der Baumwolle.
    »Ist sie da?«, fragte sie. »Ist das die Tätowierung?«
    »Ich weiß nicht, ob du sie wirklich sehen willst.«
    »Warum nicht?«
    »Es könnte sein, dass sie dir Angst macht.«
    »Keine Sorge«, erwiderte sie. »Du kannst sie mir zeigen.«
    Er zog das Hemd über den Kopf, und sie rutschte näher heran, um im schwachen Licht ihr Portrait zu betrachten, das für immer in Tinte verewigte Bildnis einer Frau, deren Augen noch immer vor Aufopferung und inbrünstiger Vaterlandsliebe glühten. Sie studierte das Bild, das sich mit seiner Brust hob und senkte.
    »Mein Mann. Er kam einen Monat später ins Lager zurück, richtig?«
    »Ja.«
    »Und er hat versucht, dir etwas anzutun, etwas sehr Schlimmes, richtig?«
    Er nickte.
    Sie sagte: »Aber du warst stärker.«
    Er schluckte. »Aber ich war stärker.«
    Sie berührte ihn, und ihre Hand ruhte leicht auf seiner Tätowierung. War es das Bild von der Frau, die sie einmal war, das ihre Finger zum Zittern brachte? Oder war es Mitgefühl für diesen Mann in ihrem Bett, der aus Gründen, die sie nicht verstand, leise angefangen hatte zu weinen?

ALS ICH AUS DER ABTEILUNG 42 nach Hause kam, musste ich feststellen, dass meine Eltern nicht einmal mehr sehen konnten, dass es Nacht geworden war. Ich musste es ihnen sagen. Ich brachte sie zu ihren Klappbetten, die nebeneinander beim Ofen standen, und als sie sich dann hingelegt hatten, starrten sie mit ihren leeren Augen an die Decke. Die Augen meines Vaters sind trübe geworden, doch die meiner Mutter sind klar und ausdrucksstark. Manchmal habe

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