Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
ich den Verdacht, dass ihr Augenlicht vielleicht nicht ganz so schlecht ist wie seins. Ich zündete meinem Vater eine Gute-Nacht-Zigarette an. Er raucht Konsol – das sagt doch eigentlich alles über ihn.
»Mutter, Vater«, sagte ich. »Ich muss noch mal weg.«
Mein Vater erwiderte: »Möge dich die ewige Weisheit Kim Jong Ils leiten.«
»Denk an die Ausgangssperre«, warnte mich meine Mutter.
In der Tasche hatte ich Bucs Ehering.
»Mutter«, sagte ich. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Ja, mein Sohn.«
»Warum habt ihr nie eine Braut für mich gesucht?«
»Wir sind an erster Stelle unserem Land verpflichtet«, antwortete sie. »Dann unseren Führern, dann ...«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ich sie. »Dann der Partei, dann der Satzung der Vereinigten Arbeiterschaft und so weiter. Aber ich war in der Jugendbrigade und habe Juche-Philosophie an der Kim-Il-Sung-Universität studiert. Ich habe meine Pflicht getan. Trotzdem habe ich keine Frau.«
»Du klingst aufgewühlt«, bemerkte mein Vater. »Hast du schon mit dem Sŏn'gun-Berater unseres Wohnblocks darüber gesprochen?« Ich sah, wie die Finger seiner rechten Hand zuckten. Als ich ein kleiner Junge war, hatte er die Angewohnheit, mir mit dieser Hand die Haare zu zerzausen. Das war seine Art, mich zu beruhigen, wenn Nachbarn fortgingen oder wir mit ansahen, wie jemand von MfSS-Männern aus der U-Bahn geholt wurde. Nun wusste ich, dass er noch immer da drin war, dass mein Vater trotz seines allgegenwärtigen Patriotismus immer noch mein Vater war, auch wenn er es für nötig hielt, sein wahres Wesen vor allen zu verbergen, sogar vor mir. Ich blies die Kerze aus.
Als ich auf den Hausflur trat, die Tür zumachte und den Schlüssel umdrehte, ging ich nicht gleich weg. Ich drückte leise das Ohr an die Tür und lauschte. Ich wollte wissen, ob die beiden sie selbst sein konnten, ob sie ihre Schutzmauer fallen lassen würden, wenn sie endlich allein im Dunkeln lagen und reden konnten wie Mann und Frau. Ich blieb lange so stehen, aber ich hörte nichts.
Draußen auf der Sin˘uiju-Straße war selbst im Dunkeln zu erkennen, dass die Juche-Jungmädchentrupps Gehwege und Wände mit revolutionären Parolen vollgeschrieben hatten. Ich habe mal gehört, dass eines Nachts ein ganzer Trupp in eine nicht ausgeschilderte Baugrube auf der Tongol-Straße gefallen ist, aber wer weiß, ob das stimmt. Ich machte mich auf in das Ragwon-Viertel, wo die Japaner vor langer Zeit Ghettos für die aufsässigsten Koreaner errichtet hatten. Dort gibt es einen illegalen Schwarzmarkt am Fuß des leerstehenden Ryugyŏng-Hotels. Selbst im Dunkeln ragt der raketenförmige Hotelturm schwarz vor dem Sternenhimmel in die Höhe. Auf der Palgol-Brücke hörte ich die Abwässer aus den umliegenden, pastellgestrichenen Häuserblocks in den Flussplätschern. Wie graue Seerosenblätter verteilten sich die kotbeschmierten Seiten der Rodong Sinmun auf dem Wasser.
Die Tauschgeschäfte werden bei den verrosteten Fahrstuhlschächten abgeschlossen. Im Erdgeschoss verhandeln ein paar Männer über die Konditionen und brüllen dann in den Schacht hoch, von wo ihre Kumpane die Ware – Medikamente, Hefte mit Lebensmittelscheinen, elektronische Geräte, Reisepässe – in Eimern an Seilen herunterlassen. Einigen von den Kerlen gefiel ich nicht, aber einer war bereit, mit mir zu reden. Er war jung und offensichtlich schon einmal von MfSS-Agenten aufgegriffen worden, die seinem Ohr einen Schlitz verpasst hatten. Ich gab ihm das Mobiltelefon von Kommandant Ga.
Er öffnete schnell die Rückseite, nahm die Batterie heraus, leckte an den Kontakten und sah sich die Nummer auf der eingesteckten Karte an. »Das ist noch gut«, sagte er. »Was willst du dafür?«
»Wir verkaufen nicht. Wir brauchen ein Ladegerät dafür.«
»Wir?«
»Ich«, korrigierte ich mich. Ich zeigte ihm Genosse Bucs Ring.
Er lachte über den Ring. »Wenn du das Telefon nicht verkaufen willst, dann mach, dass du wegkommst.«
Es ist ein paar Jahre her, nach einer Feier zum Fünfzehnten April, da war die ganze Pubjok-Truppe betrunken, und ich nutzte die Gelegenheit, eine ihrer Marken mitgehen zu lassen. Manchmal war sie ganz praktisch. Jetzt holte ich sie raus und ließ sie im Dunkeln aufblitzen. »Wir brauchen ein Ladegerät«, sagte ich. »Oder soll dein anderes Ohr auch noch dran glauben?«
»Bisschen jung für nen Pubjok.«
Der Bengel war halb so alt wie ich.
Mit meiner autoritärsten Stimme sagte ich: »Die Zeiten ändern
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