Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
neue Identität angenommen hatte? Meine Mutmaßung war, dass er innerlich immer noch derselbe war, aber sein Äußeres komplett geändert hatte. Davorhatte ich Respekt. Aber wäre es nicht erst dann eine wirkliche Veränderung, wenn man auch innerlich ein neuer Mensch wurde?
Es gab nicht mal eine Akte für diesen Kommandanten Ga – ich hatte nur die von Genosse Buc. Ich wälzte mich eine Weile hin und her, fragte mich, wie Ga so ruhig wirken konnte, und dann zündete ich meine Kerze wieder an und blätterte in Bucs Akte. Ich spürte, dass meine Eltern wach waren. Sie lagen ganz still, atmeten gleichmäßig und lauschten, wie ich Bucs Akte nach Hinweisen auf Gas Identität durchforstete. Zum ersten Mal war ich neidisch auf die Pubjok, darauf, wie sie es schafften, an Antworten zu kommen.
Und dann gab das Mobiltelefon einen einzelnen, glasklaren Ton von sich. Pling , machte es.
Ich hörte den Stoff knarren, als meine Eltern auf ihren Feldbetten erstarrten.
Am Telefon auf dem Tisch blinkte ein grünes Licht.
Ich nahm das Gerät in die Hand und klappte es auf. Auf dem kleinen Display war ein Foto zu sehen. Eine Aufnahme von einem Gehweg. Zwischen den Pflastersteinen war ein Stern, in dem zwei Wörter in lateinischer Schrift standen: »Ingrid« und »Bergman«. Auf dem Foto war es Tag.
Ich nahm wieder Genosse Bucs Akte zur Hand und suchte nach Bildern, auf denen so ein Stern zu sehen war. Es gab alle üblichen Fotos – seinen Parteieintritt, die Verleihung seiner Kim-Il-Sung-Nadel mit sechzehn, der Ewige Treueschwur. Ich blätterte zum Foto seiner toten Familie, wie sie mit zurückgeworfenen Köpfen verrenkt auf dem Boden lagen. Und doch wirkten sie so rein. Die Mädchen in ihren weißen Kleidern. Die Mutter hatte den Arm um die älteren Mädchen gelegt und hielt die Jüngste an der Hand. Der Anblick ihres Eherings versetzte mir einen Stich. Es muss eine schwere Zeit fürsie gewesen sein, gerade war ihr Mann verhaftet worden, und dann erlagen sie bei einer Familienfeier ohne ihn »wahrscheinlich einer Kohlenmonoxid-Vergiftung«. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie es ist, wenn man seine Familie verliert oder ein geliebter Mensch einfach so verschwindet. Jetzt verstand ich ein wenig besser, warum Buc uns im Sumpf gewarnt hatte, wir müssten bereit sein und einen Plan haben. Ich lauschte meinen schweigenden Eltern in der Dunkelheit und überlegte, ob ich nicht auch einen Plan brauchte, falls ich einen von ihnen verlieren sollte. Falls es das war, was Buc gemeint hatte.
Weil die Familie von Genosse Buc auf dem Boden ausgestreckt lag, wurde der Blick automatisch dorthin gezogen. Deshalb fiel mir erst jetzt auf, dass oben auf dem Tisch eine Büchse Pfirsiche stand. Ein kleines Detail im Gesamtbild des Fotos. Der gezackte Deckel der Büchse war nach hinten gebogen, und in dem Moment wurde mir klar, dass die Methode, mit der sich Kommandant Ga aus seiner restlichen Biografie verabschieden würde, auf seinem Nachttisch stand.
*
Als ich in der Abteilung 42 eintraf, schimmerte Licht unter der Tür des Pubjok-Aufenthaltsraums. Ich schlich lautlos vorbei – bei diesen Typen wusste man nie, ob sie lange geblieben oder früh gekommen waren.
Ich fand Kommandant Ga ruhig schlafend vor – die Pfirsichbüchse war weg.
Ich rüttelte ihn wach. »Wo sind die Pfirsiche?«, fragte ich ihn.
Er rieb sich die Augen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ist es Tag oder Nacht?«, wollte er wissen.
»Nacht.«
Er nickte. »Fühlt sich wie Nacht an.«
»Die Pfirsiche!«, sagte ich. »Haben Sie der Schauspielerin und ihren Kindern Pfirsiche gegeben? Haben Sie sie damit umgebracht?«
Ga drehte sich zum Nachttisch. Er war leer. »Wo sind meine Pfirsiche?«, fragte er. »Das sind spezielle Pfirsiche. Sie müssen sie zurückholen, bevor ein Unglück geschieht.«
In dem Moment sah ich Q-Ki auf dem Flur. Es war halb vier morgens! Die Sirenen würden erst in zwei Stunden wieder zur Arbeit rufen. Ich rief ihr hinterher, aber sie ging einfach weiter.
Ich wandte mich wieder Ga zu: »Verraten Sie mir, was ein Bergman ist!«
»Bergman?«, fragte er zurück. »Ich habe keine Ahnung, was Sie –«
»Oder ein Ingrid ?«
»Dieses Wort gibt es nicht«, antwortete er.
Ich starrte ihn einen Moment an. »Haben Sie Sun Moon geliebt?«
»Ich liebe sie immer noch.«
»Aber wie ist das möglich?«, wollte ich wissen. »Wie haben Sie es geschafft, dass sie Ihre Liebe erwidert?«
»Vertrauen.«
» Vertrauen ? Was soll das
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