Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Erdnüssen und einem Fünf-Kilo-Sack Reis. Eins sage ich Ihnen, die Leute in der U-Bahn können einem ziemlich böse Blicke zuwerfen, ohne einen auch nur anzusehen.
Ich zauberte ein Festessen für meine Eltern, und wir waren bester Stimmung. Zur Feier des Tages zündete ich sogar eine zweite Kerze an. Dann, während des Abendessens, leuchtete das orangefarbene Licht des Ladegeräts plötzlich grün. Ursprünglich hatte ich mir wohl vorgestellt, dass ich auf dem Dach unter dem Sternenhimmel stehen würde, wenn ich Kommandant Gas Mobiltelefon zum ersten Mal benutzte.Als würde ich das ganze Universum sehen, wenn ich zum ersten Mal ein Gerät verwendete, mit dem man jeden Menschen auf der ganzen Welt erreichen konnte. Stattdessen spielte ich während des Essens damit herum und ging die verschiedenen Menüs durch. Die Schrift auf dem Telefon war lateinisch. Ich war allerdings auf der Suche nach Nummern, aber es waren weder eingehende noch ausgehende Anrufe gespeichert.
Mein Vater hörte die Tastentöne. »Hast du da was?«, fragte er.
»Nein«, antwortete ich.
Ganz kurz hatte ich den Eindruck, dass meine Mutter das Telefon anschaute, aber als ich hochsah, starrte sie vor sich ins Leere und kaute genussvoll den lockeren weißen Reis – Lebensmittelscheine für Reis gab es schon seit Monaten nicht mehr, und wir hatten uns lange nur von Hirse ernährt. Früher fragten sie mich, woher ich das Geld für Lebensmittel vom Schwarzmarkt habe, aber inzwischen taten sie das nicht mehr. Ich lehnte mich zu meiner Mutter hinüber, hielt das Mobiltelefon hoch und bewegte es langsam vor ihren Augen hin und her. Falls sie das Telefon wahrnahm, ließ sie sich nichts anmerken.
Ich schaute wieder auf die Tasten. Das Schlimmste war nicht, dass ich von niemandem die Telefonnummer wusste – ich kannte keine einzige – die Sache war vielmehr, dass mir in diesem Moment klar wurde, dass es niemanden gab, den ich anrufen konnte. Es gab keine Frau, keinen Kollegen und keinen Verwandten, dem ich etwas mitzuteilen hatte. Hatte ich denn keinen einzigen Freund?
»Vater«, sagte ich. Er aß die salzigen Erdnüsse mit Chilis, die er so gerne mochte. »Vater, wenn du dich bei irgendjemandem melden könntest, bei wem würdest du dich melden?«
»Warum sollte ich mich bei jemandem melden?«, erwiderte er. »Das ist nicht notwendig.«
»Es geht nicht um Notwendigkeit«, entgegnete ich. »Sondern um ein Bedürfnis. Zum Beispiel einen Freund, den du anrufen möchtest. Oder einen Verwandten.«
»Unsere Parteigenossen erfüllen all unsere Bedürfnisse«, sagte meine Mutter.
»Was ist mit deiner Tante?«, fragte ich meinen Vater. »Hast du nicht eine Tante im Süden?«
Das Gesicht meines Vaters war ausdruckslos und leer. »Wir haben keine Verbindung zu diesem korrupten kapitalistischen Land«, sagte er.
»Sie ist eine Verräterin«, fügte meine Mutter hinzu.
»Hey, ich frage das nicht als staatlicher Vernehmungsbeamter«, sagte ich. »Ich bin euer Sohn. Das ist nur ein Gespräch am Esstisch.«
Sie aßen schweigend. Ich beschäftigte mich wieder mit dem Telefon, ging die unterschiedlichen Funktionen durch, die anscheinend alle deaktiviert waren. Ich wählte ein paar zufällige Nummern, aber das Telefon stellte keine Verbindung zum Netz her, obwohl ich den Funkmast durch unser Fenster sehen konnte. Ich stellte die Lautstärke hoch und runter, aber das Telefon klingelte nicht. Ich versuchte, die Kamera-Funktion zu betätigen, aber es wollte einfach kein Foto machen. Es sah so aus, als würde ich das Ding am Ende doch verkaufen. Trotzdem wurmte es mich, dass mir keine einzige Person einfiel, die ich anrufen könnte. Ich ging im Kopf eine Liste all meiner Uni-Professoren durch, aber meine beiden Lieblingsdozenten waren ins Arbeitslager geschickt worden – es hatte wirklich weh getan, die Anzeigen wegen Volksverhetzung zu unterzeichnen, aber ich musste meine Pflicht erfüllen, schließlich war ich damals schon Praktikant in Abteilung 42.
»Moment, jetzt fällt mir was ein«, sagte ich. »Als ich ein kleiner Junge war, gab es dieses Ehepaar. Sie kamen immer zu uns und ihr habt bis spät in die Nacht Karten gespielt. Wollt ihr nicht wissen, was aus ihnen geworden ist? Würdet ihr euch nicht bei ihnen melden, wenn ihr könntet?«
»Ich glaube nicht, dass ich je von diesen Leuten gehört habe«, erwiderte mein Vater.
»Ich bin mir ganz sicher«, entgegnete ich. »Ich erinnere mich genau an sie.«
»Nein«, widersprach er. »Da musst du dich
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