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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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den Charakter des nordkoreanischen Volkes am besten repräsentierte, wurde heiß diskutiert. Am Ende entschied man sich für die Marke Prolot .
    Aber es wurde nicht nur gearbeitet. Jeden Tag gönnte sich Kommandant Ga eine lange Mittagspause im Moranbong-Lichtspieltheater, wo er sich ganz allein Sun Moons Filme ansah. Er erlebte ihren unbeugsamen Durchhaltewillen in Sturz der Unterdrücker, spürte ihr grenzenloses Leid in Mutterloses Vaterland, verstand ihre verführerische List in Ruhm und Glorie und pfiff auf dem Heimweg patriotische Lieder, nachdem er Haltet die Fahne hoch! gesehen hatte.
    Jeden Morgen vor der Arbeit, wenn die Finken und Zaunkönige in den Baumkronen zwitscherten, unterwies Kommandant Ga die Kinder in der Kunst des Fallenstellens. Aus feinem Garn bastelten sie Singvogelfallen, und alle drei bauten auf dem Balkongeländer eine Schlinge mit einem Stein als Gewicht und einem kleinen Zweig als Auslöser auf, die mit Selleriesamen als Köder bestückt wurden.
    Und wenn Kommandant Ga nachmittags nach Hause kam, brachte er den Kindern das Arbeiten bei. Arbeit war ihnen fremd, aber sie fanden es zur Abwechslung richtig spannend. Ga musste ihnen allerdings alles zeigen: Wie man den Spaten mit dem Fuß in die Erde treibt oder dass man sich hinknien muss, wenn man im Tunnel die Spitzhacke schwingen will. Dem Mädchen gefiel es, endlich mal ihre Schuluniform ausziehen zu dürfen, und der Dreck im Tunnel störte sie auch nicht. Dem Jungen machte es einen Riesenspaß, Eimer voller Erde die Leiter hinaufzuschleppen und nach hinten auf den Balkon zu schaffen, wo er die Erde langsam den Hang hinabrieseln ließ.
    Während Sun Moon die Kinder abends in den Schlaf sang, durchforstete Ga die Dateien auf dem Laptop, auf dem sich vor allem Karten befanden, mit denen er nichts anzufangen wusste. Es gab jedoch auch einen Ordner mit Fotos — Hunderte, und schrecklich anzusehen. Im Grunde waren die Bilder gar nicht so anders als die von Mongnan: Männer, die mit einer Mischung aus Furcht und Nichtwahrhabenwollen dessen, was gleich mit ihnen geschehen würde, in die Kamera schauten. Und dazu dann die »Nachher«-Fotos, auf denen die Männer blutig und halbnackt zusammengeschlagen auf dem Boden lagen. Die Bilder von Genosse Buc waren ganz besonders widerwärtig.
    Jede Nacht schlief sie auf ihrer Seite des Ehebetts und er auf seiner.
    Time to get some shut-eye , sagte er zu ihr, und sie antwortete: Sweet dreams .
    Ende der Woche traf ein Drehbuch vom Geliebten Führer ein. Es hieß Die größten Opfer . Sun Moon ließ es auf dem Tischchen liegen, wo der Bote es abgelegt hatte; den ganzen Tag strich sie darum herum, den Fingernagel zwischen den Zähnen.
    Schließlich zog sie zur Beruhigung ihren alten Lieblingshausmantel an und schloss sich mit dem Drehbuch im Schlafzimmer ein, wo sie es immer wieder las und dabei zwei Päckchen Zigaretten qualmte.
    An jenem Abend sagte er im Bett: Time to get some shut-eye. Sie sagte nichts.
    Nebeneinander starrten sie an die Decke.
    »Macht das Drehbuch dir Sorgen?«, fragte er. »Was für eine Figur sollst du für den Geliebten Führer spielen?«
    Sun Moon dachte eine Weile darüber nach. »Sie ist eine einfache Frau«, erzählte sie schließlich. »In einfacheren Zeiten. Ihr Mann ist im Krieg und kämpft gegen die Imperialisten. Er war ein netter Mensch, den alle gern mochten, doch als Leiter seines Landwirtschaftskollektivs war er zu nachsichtig, und die Produktivität sank. Während des Krieges wären die Bauern beinahe verhungert. Vier Jahre vergehen, und alle glauben, er ist tot. Doch dann kehrt er zurück. Der Mann erkennt seine Frau kaum wieder, und er selbst sieht völlig verändert aus – er hat im Gefecht Brandwunden erlitten. Der Krieg hat ihn hart und kalt werden lassen, er ist jetzt ein strenger Zuchtmeister. Aber die Erträge steigen, und die Ernte ist üppig. Die Bauern schöpfen neue Hoffnung.«
    »Lass mich raten«, entgegnete Kommandant Ga. »Erst dann regt sich in der Frau der Verdacht, dass er vielleicht nicht ihr echter Ehemann ist, und als sie den Beweis dafürhat, muss sie sich entscheiden, ob sie ihr privates Glück dem größeren Nutzen für das Volk opfert.«
    »Was, das Drehbuch ist derart vorhersehbar?«, fragte sie. »So leicht zu durchschauen, dass ein Mann den Inhalt erraten kann, der erst eine Handvoll Filme gesehen hat?«
    »Das ist nur so eine Vermutung, wie es ausgehen könnte. Vielleicht gibt es ja noch eine überraschende Wendung, wie die

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