Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Pflichterfüllung«, bestätigte er. »Aber was wird aus der Frau? Egal, wie es ausgeht, sie bleibt allein.«
    »Was wird aus der Frau?«, fragte Sun Moon in den Raum.
    Brando erhob sich. Der Hund starrte ins dunkle Haus.
    Kommandant Ga und Sun Moon sahen einander an.
    Als der Hund zu knurren begann, wachten auch der Junge und das Mädchen auf. Sun Moon zog ihren Hausmantel über, während Kommandant Ga eine Kerze nahm und – die Hand schützend um die Flamme gelegt – dem Hund zur Balkontür folgte. Die Vogelfalle war ausgelöst worden, und in der Schlinge saß wild flatternd ein kleiner Zaunkönig. Braune und graue Federn blitzten auf, beige-weiße Tupfen. Ga drückte dem Jungen, der mit großen Augen staunend dastand, die Kerze in die Hand. Er nahm den Vogel in beide Hände und zog ihm die Schlinge vom Bein. Dann spreizte er die Vogelflügel auf und zeigte sie den Kindern.
    »Es hat funktioniert!«, rief das Mädchen. »Es hat wirklich funktioniert!«
    Im Straflager 33 durfte man nicht riskieren, mit einem Vogel in der Hand erwischt zu werden; so hatte Ga gelernt, seine Beute in Sekundenschnelle zu verzehren. »Gut, jetzt guckt genau zu«, ermahnte Ga die Kinder. »Oben am Nacken fest zufassen, einmal ziehen und schnell drehen.« Schon hatte er dem Vogel den Kopf abgerissen und warf ihn über das Geländer. »Hier, die Beine gehen mit einer Drehung ab, und die Flügel ebenso am ersten Gelenk. Dann setzt ihr beide Daumen auf die Brust, so, und nach außen schieben.« Durch den Druck riss die gefiederte Haut auf und brachte das Brustfleisch zum Vorschein. »Das Fleisch hier ist das Beste, aber werft auch den Rest nicht fort, wenn ihr genug Zeit habt. Die Knochen kann man auskochen, das ergibt eine gesunde Brühe. Piekt einfach mit dem Finger in den Bauch, und wenn ihr dann den Vogel dreht, kommen alle Eingeweide in einem heraus.« Ga schüttelte sich das Zeug von den Fingern, krempelte dann die Haut um und häutete den Vogel in einem Stück.
    »Da.« Ga hielt ihnen das Vögelchen hin. Es war schön anzusehen: Das Fleisch hatte einen rosa Perlmuttglanz und spannte sich über hauchfeine, weiße Knochen, aus deren winzigen Spitzen es rosa tropfte.
    Mit dem Daumennagel machte er einen Einschnitt entlang des Brustbeins und hob eine perfekte Mandel durchscheinenden Brustfleischs heraus. Die steckte er sich selbst in den Mund, ließ sie auf der Zunge zergehen und erinnerte sich.
    Das andere Brüstchen hielt er den Kindern hin, die sprachlos den Kopf schüttelten. Ga aß auch das zweite und warf dem Hund das Gerippe hin, der es sofort zermalmte.

BEGLÜCKWÜNSCHT EINANDER, BÜRGER! Heute feiern wir die Veröffentlichung der jüngsten Schrift des Geliebten Führers, Über die Opernkunst , die höchstes Lob verdient. Dieses Buch ist der Folgeband von Kim Jong Ils Über die Filmkunst , ein Standardwerk für ernsthafte Schauspielschüler weltweit. Zur Feier dieses Anlasses ließ der Minister für Kollektive Kindererziehung zwei neue Kinderlieder komponieren – »Tief verborgen« und »Wir tauchen unter dem Seil hindurch«. Die ganze Woche dürft ihr ungültig gewordene Lebensmittelkarten als Eintrittskarten für die Frühvorstellungen der Oper verwenden!
    Eine wichtige Durchsage des Verteidigungsministers: Der Lautsprecher bringt täglich Nachrichten, Bekanntmachungen und Kulturprogramme in jede Wohnung und jedes Haus in Nordkorea. Doch wir möchten euch daran erinnern, dass dieses Frühwarnsystem ursprünglich im Jahre 1973 auf Veranlassung des Großen Führers Kim Il Sung für den Fall eines Luftangriffs im ganzen Land installiert wurde, und sein ordnungsgemäßes Funktionieren ist von größter Wichtigkeit für die nationale Sicherheit. Die Inuit sind ein isolierter Stamm rückständiger Wilder, die in der Nähe des Nordpols leben. Ihre Stiefel heißen Mukluk. Fragt eure Nachbarn heute im Laufe des Tages: Was ist ein Mukluk? Wissen sie es nicht, dann funktioniert ihr Lautsprecher vielleicht nicht richtig, oder ein Kabel wurde versehentlich herausgezogen. Meldet das eurem Blockwart, denn dadurch lassen sich beim nächsten Überraschungsangriff der Amerikaner auf unser glorreiches Land viele Menschenleben retten!
    Bürger, als wir unsere schöne Sun Moon das letzte Mal sahen, hatte sie der Welt den Rücken zugekehrt. Unsere arme Schauspielerin trauerte sehr. Warum sucht sie nicht Trost bei den inspirierenden Schriften unseres Geliebten Führers? Kim Jong Il versteht, was ihr durchmacht. Im Alter von sieben Jahren verlor er