Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Auf Jun Do wirkte es, als hätten sich überall an dieser Landstraße schreckliche Tragödien ereignet. Und wo waren bloß die Menschen? Ein stacheldrahtbewehrter Zaun hielt mit ihnen Schritt, sodass es schien, als bewegten sie sich durch eine normale Sperrzone. Doch die Pfosten waren nicht aus Beton und trugen auch keine Isolatoren für Strom, sondern bestanden aus krummen, ausgebleichten Ästen, die wie gebrochene Gliedmaßen oder bleiche Knochen wirkten – als hätte für jede fünf Meter Zaun jemand sterben müssen.
»Was für ein außergewöhnliches Auto«, sagte Dr. Song.
»Es gehört dem Senator«, sagte Tommy. »Wir sind seit unserem gemeinsamen Militärdienst Freunde.« Tommy ließ den Arm aus dem Fenster hängen. Er schlug zweimal von außen gegen das Blech. »Den Krieg habe ich in Vietnam kennengelernt«, erzählte er. »Jesus auch, aber die Liebe habe ich erst kennengelernt, als ich mir diesen Mustang ausgeliehen habe und mit Mary McParsons auf dem gerippten Rücksitz lag. Das war mein erster Atemzug als Mann.«
Wanda lachte.
Dr. Song rutschte betreten auf dem Rücksitz herum.
Jun Do sah Dr. Songs Gesicht an, welch fürchterliche Beleidigung es für ihn war, auf demselben Leder sitzen zu müssen, auf dem Tommy einst Geschlechtsverkehr hatte.
»Ich schaudere, wenn ich dran denke, was ich früher für ein Typ war«, fuhr Tommy fort. »Gott sei Dank bin ich das nicht mehr. Ich habe die Frau übrigens später geheiratet. Wenigstens das habe ich richtig gemacht. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Dr. Song bemerkte ein Plakat am Straßenrand, auf dem der Senator und eine amerikanische Flagge abgebildet waren. »Und Sie haben bald Wahlen?«, fragte er.
»Das stimmt«, antwortete Tommy. »Der Senator muss sich im August der Vorwahl stellen.«
»Da haben wir ja Glück, Jun Do«, sagte Dr. Song, »wir können das Wirken der amerikanischen Demokratie direkt miterleben.«
Jun Do versuchte sich vorzustellen, wie Genosse Buc darauf antworten würde. »Außerordentlich spannend«, erwiderte er.
Dr. Song fragte: »Und wird der Herr Senator als Volksvertreter wiedergewählt werden?«
»Mit ziemlicher Sicherheit ja«, antwortete Tommy.
»Mit ziemlicher Sicherheit?«, fragte Dr. Song. »Das klingt ja nicht gerade sehr demokratisch.«
Jun Do stimmte ein: »Uns wurde Demokratie anders erklärt.«
»Und wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein?«, wollte Dr. Song wissen.
Tommy sah sie im Rückspiegel an. »Von den registrierten Wählern? Bei einer Vorwahl sind das immer um die vierzig Prozent.«
»Vierzig Prozent!«, rief Dr. Song. »Die Wahlbeteiligung in der Demokratischen Volksrepublik Korea liegt bei neunundneunzig Prozent – das demokratischste Land der Welt! Aber die Vereinigten Staaten brauchen sich nicht zu schämen. Sie können immer noch anderen Ländern mit weniger Beteiligung als gutes Vorbild dienen – Burundi, Paraguay und Tschetschenien zum Beispiel.«
»Neunundneunzig Prozent«, sagte Tommy bewundernd. »Bei so viel Demokratie seid ihr ja bald bei über hundert angelangt!«
Wanda lachte, sah aber Jun Do in die Augen, als sie sich umdrehte, und lächelte ihm verschmitzt zu, als wolle sie ihn in den Spaß mit einbeziehen.
Tommy sah die Nordkoreaner im Rückspiegel an. »Jetzt mal ganz ehrlich: Diese Sache mit dem ›demokratischsten Land der Welt‹ und so weiter, das glaubt ihr doch nicht wirklich, oder? Ihr wisst ja, aus was für einem Land ihr tatsächlich kommt, richtig?«
Wanda sagte: »Stell ihnen nicht solche Fragen. Wenn sie eine falsche Antwort geben, kriegen sie zu Hause Ärger.«
Tommy ließ dennoch nicht locker. »Bitte, sagt mir, dass ihr wisst, dass der Süden den Krieg gewonnen hat. Das müsst ihr doch wenigstens wissen.«
»Aber Sie irren sich, mein lieber Thomas«, erwiderte Dr. Song. »Ich meine mich zu erinnern, dass die Südstaaten den Krieg verloren haben. Der Norden hat gesiegt.«
Wanda grinste Tommy an. »Da hat er dich rangekriegt.«
Tommy lachte. »Ja, die Antwort war gut. Die amerikanische Geschichte zumindest kennt er.«
Vor einem Cowboyausstatter hielten sie an. Abgesehen von dem Thunderbird und einem daneben geparkten schwarzen Wagen war der Parkplatz leer. Mehrere Angestellte warteten drinnen bereits auf die Besucher, um sie nach Westernmanier einzukleiden. Dr. Song übersetzte für den Minister, dass die Cowboystiefel ein Geschenk des Senators seien; er habe lediglich die Qual der Wahl. Der Minister war von der exotischen Schuhmode fasziniert und probierte
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