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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Boots aus Echsen-, Straußen- und Haifischleder an. Er entschied sich schließlich für Schlangenleder, und die Verkäuferinnen suchten Paare in seiner Größe heraus.
    Dr. Song besprach sich kurz mit dem Minister und verkündete dann: »Der Herr Minister muss mal einen Kot machen.«
    Die Amerikaner hätten offensichtlich gern gelacht, wagten es aber nicht.
    Der Minister war lange verschwunden. Jun Do fand ein Paar schwarze Stiefel, die ihm gefielen, stellte sie aber am Ende wieder zurück. Er schaute sich viele Frauenstiefel an, bis er ein Paar fand, das der Frau des Zweiten Maats passen könnte. Sie waren aus dickem, gelbem Leder mit aufwändiger Stickerei an der Spitze.
    Immer kleinere und kleinere Größen wurden Dr. Song gereicht. Endlich passte ihm ein schlichtes, schwarzes Paar – in einer Kindergröße. Damit er nicht das Gesicht verlor, sagte Jun Do sehr laut zu Dr. Song: »Stimmt das, dass Sie genau die gleiche Schuhgröße tragen wie der Geliebte Führer Kim Jong Il?«
    Alle Blicke richteten sich auf Dr. Song, der in seinen Stiefeln durch den Laden schlenderte, in der Hand seine Herrenschuhe. Vor einer Schaufensterpuppe mit Cowgirlkleidung blieb er stehen. »Sieh dir das an, Jun Do«, sagte er. »In Amerika werden die Kleider nicht von den schönsten Frauen des Landes vorgeführt, sondern von Modellen aus Plastik.«
    »Sehr clever«, sagte Jun Do.
    »Vielleicht haben unsere schönsten Frauen ja etwas anderes zu tun«, sagte Wanda.
    Vor dieser Wahrheit musste Dr. Song den Kopf neigen. »Natürlich«, sagte er. »Wie töricht von mir.«
    An der Wand hing eine Axt hinter einer Glasscheibe. »Sieh mal«, sagte Dr. Song. »Die Amerikaner sind allzeit auf einen gewalttätigen Aufstand vorbereitet.«
    Der Senator sah auf die Uhr, und Jun Do war klar, dass er genug von diesem Spielchen hatte.
    Der Minister tauchte wieder auf und bekam ein Paar Cowboystiefel in die Hand gedrückt. Jede einzelne Schuppe des Schlangenleders glänzte im Licht. Der offensichtlich begeisterte Minister stolzierte wie ein Revolverheld darin herum.
    »Kennen Sie den Western Zwölf Uhr mittags ?«, fragte Dr. Song. »Das ist der Lieblingsfilm des Herrn Ministers.«
    Und auf einmal lächelte der Senator wieder.
    Dr. Song sprach den Minister an. »Die passen ja wunderbar, nicht wahr?«
    Der Minister blickte traurig hinunter auf seine neuen Stiefel. Er schüttelte den Kopf.
    Der Senator schnipste mit den Fingern. »Können Sie noch mehr Stiefel herbringen, bitte?«, sagte er zu den Verkäufern.
    »Es tut mir leid«, sagte Dr. Song. Er setzte sich, um seine Boots auszuziehen. »Aber der Herr Minister ist überzeugt, dass es eine Beleidigung für unseren Geliebten Führer wäre, wenn wir ein solches Geschenk annehmen würden und der Geliebte Führer selbst keine Stiefel bekäme.«
    Jun Do stellte die Stiefel wieder weg, die er für die Frau des Zweiten Maats ausgesucht hatte. Es war sowieso ein Wunschtraum gewesen, das wusste er. Auch der Minister setzte sich hin und zog die Cowboystiefel wieder aus.
    »Das lässt sich ganz leicht beheben«, beschwichtigte der Senator. »Natürlich können wir ein Extrapaar Stiefel für Mr. Kim mitschicken. Wir wissen ja jetzt, dass er dieselbe Größe trägt wie Dr. Song. Wir besorgen einfach ein zweites Paar.«
    Dr. Song schnürte seine eigenen Schuhe wieder zu.
    »Die schlimmste Beleidigung wäre«, sagte Dr. Song, »wenn ein einfacher Diplomat wie ich Stiefel tragen würde, die nur dem hochgeschätzten Führer der größten Nation der Welt zustehen.«
    Wandas Blick wanderte zwischen den Akteuren dieser Szene hin und her und blieb schließlich an Jun Do hängen. Er spürte, dass er derjenige war, der ihr Rätsel aufgab.
    Sie gingen ohne Stiefel.
    *
    Alles auf der Ranch war darauf vorbereitet worden, den Koreanern einen Einblick ins texanische Leben zu verschaffen. Über ein Viehgitter fuhren sie auf das riesige Grundstück, wo sie in Pick-up-Trucks umstiegen. Wieder fuhr der Minister beim Senator mit, während der Rest der Gruppe in einem viertürigen Kleinlaster hinterherholperte. Der Fahrweg aus Sand und losem Schotter führte an windverkrümmten Büschen und knorrigen Bäumen vorbei, die wie vom Blitz verbrannt und gespalten wirkten; sogar die oberen Äste hingen bis auf den Boden. Es gab einen ganzen Acker voller Kakteen, deren Stacheln wie Tigerklauen leuchteten. Jede schien für sich allein aus dem felsigen Untergrund zu ragen; auf Jun Do wirkten sie, als streckten Tote ihre Arme aus dem Erdreich.
    Auf

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