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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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bin mit dem Bürgermeister von Wladiwostok befreundet!«
    »Euros«, sagte der Fluglotse.
    Wie sich herausstellte, hatte Genosse Buc noch einen zweiten Koffer dabei, der war mit europäischem Geld gefüllt.
    Beim Start bat Dr. Song den Piloten, einen beeindruckenden Abgang hinzulegen. Auf der Rollbahn ließ der die Triebwerke aufheulen und zog die Maschine derart steil in die Höhe, dass die Passagiere nur so durchgerüttelt wurden.
    Selbst als sie die Aleuten und die internationale Datumsgrenze überquert und schließlich die Reisehöhe von neuntausend Metern erreicht hatten, zeichneten sich die immer noch gestochen scharfen Umrisse der Containerschiffe auf dem tiefblauen Meer ab. Vom Kapitän wusste Jun Do, dass die See hinter der japanischen Ostküste neuntausend Meter tiefwar – jetzt konnte er sich ungefähr vorstellen, was das bedeutete. Als er die unermessliche Weite des Pazifiks unter sich sah – wie unvorstellbar und monumental, so etwas zu durchrudern! –, verstand er, wie wundersam es gewesen war, dass er überhaupt Funkbotschaften empfangen hatte.
    Wo war der Arm des Kapitäns der Kwan Li ?, fragte sich Jun Do auf einmal. In wessen Hände waren seine, Jun Dos, Wörterbücher gefallen, und wer seifte sich an diesem Morgen mit dem Rasierpinsel des Kapitäns ein? Durch welchen Tunnel lief seine Einheit gerade, und was war aus der alten Frau geworden, die er entführt hatte, der, die gesagt hatte, sie komme freiwillig mit, wenn sie dafür ein Foto von ihm aufnehmen dürfe? Was für ein Gesicht hatte er wohl gemacht, und was für eine Geschichte mochte die Kellnerin aus Niigata von der Nacht erzählt haben, in der sie mit zwei Entführern trank? Plötzlich sah er die Frau des Zweiten Maats in ihrem Arbeitsoverall vor sich, ihre Haut glänzte vom Fischöl, die Haare waren wirr vom Dampf, und das raschelnde gelbe Kleid hüllte ihn ein und ließ ihn in tiefen Schlaf sinken.
    Irgendwo über Kanada rief Dr. Song alle zu einer Einführung zum Thema »Die Amerikaner« zusammen. Einleitend sprach er über die Schrecken des Kapitalismus und die amerikanischen Kriegsverbrechen an den von ihnen unterjochten Völkern. Dann beschäftigte er sich mit dem Konzept Jesus Christus, beleuchtete die Sonderstellung des amerikanischen Negers und listete die Gründe für die Republikflucht der Mexikaner in Richtung Vereinigte Staaten auf. Als Nächstes versuchte er zu erläutern, warum reiche Amerikaner ihre Autos selbst lenkten und mit ihren Untergebenen wie mit Gleichrangigen redeten.
    Ein junger Mann wollte wissen, wie er sich bei der Begegnung mit einem Homosexuellen verhalten solle.
    »Weise darauf hin, dass es sich um eine neue Erfahrung für dich handelt, da es solche Personen dort, wo du herkommst, nicht gibt«, antwortete Dr. Song. »Behandle ihn dann wie einen Juche-Forscher, der uns aus einem fremden Land wie Burma oder Kuba oder der Ukraine besuchen kommt.«
    Als Nächstes gab Dr. Song praktische Hinweise für den alltäglichen Umgang. Schuhe dürfe man auch in der Wohnung tragen. Frauen sei in Amerika das Rauchen gestattet, sie dürften nicht dafür gerügt werden. Anderer Leute Kinder zu schlagen sei nicht erlaubt. Auf einem Stück Papier zeichnete er ihnen den Umriss eines Footballs auf. Das Thema der persönlichen Hygiene war Dr. Song sehr peinlich, aber als das abgehakt war, gab es einen kleinen Abriss zum Thema Lächeln. Abschließend ließ er sich über Haustiere aus: Über die Sentimentalität der Amerikaner und ihre ausgeprägte Schwäche für Hunde. Vierbeiner dürften in Amerika auf keinen Fall geschlagen oder getreten werden, sagte er. Sie gelten als Familienmitglieder und haben Namen, genau wie Menschen. Hunde haben einen eigenen Arzt und ein eigenes Bett, Spielzeug und leben nicht in einem Gehege.
    Als der Landeanflug endlich begann, kam Genosse Buc herüber zu Jun Do.
    »Ein Wort zu Dr. Song«, sagte er. »Er hat eine lange Karriere hinter sich, er ist prominent, aber in Pjöngjang ist man immer nur so lange sicher, wie der letzte Erfolg anhält.«
    »Sicher?«, fragte Jun Do. »Sicher wovor?«
    Genosse Buc berührte die Uhr, die Jun Do am Arm trug. »Verhilf ihm einfach zum Erfolg.«
    »Ja, und Sie? Warum kommen Sie nicht mit?«
    »Ich?«, erwiderte Genosse Buc. »Ich habe vierundzwanzig Stunden Zeit, nach Los Angeles zu düsen, für dreihunderttausend Dollar DVDs einzukaufen und wieder ins Flugzeug zu steigen. Ist es wahr, dass du noch nie einen Film gesehen hast?«
    »Ich bin kein Bauerntrampel. Ich

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