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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ein Stück Rindfleisch, verstehst du? Das mit dem Tiger ist nur eine Geschichte. Was wir ihnen wirklich servieren, ist eine Geschichte.«
    »Aber was ist, wenn sie das essen?«, fragte Jun Do. »Wenn sie glauben, dass es Tiger ist, es aber trotzdem essen, um nicht unhöflich zu wirken, sich dann aber ärgern, dass wir sie gezwungen haben, gegen ihre eigenen Moralvorstellungen zu verstoßen – werden sie sich dann nicht bei den Verhandlungen dafür rächen?«
    Genosse Buc drehte sich gespannt zu Dr. Song um.
    »Wenn die Amerikaner nicht völlig auf den Kopf gefallen sind«, erläuterte Dr. Song, »werden sie sich von der Tigergeschichte nicht blenden lassen. Dann schmecken sie sofort, dass das Rind ist. Aber wenn die Amerikaner nur mit uns spielen, wenn sie kein Interesse an Fakten haben und gar nicht ernsthaft verhandeln wollen, dann werden sie Tiger schmecken.«
    »Das heißt, wenn sie die Tigergeschichte glauben, dann glauben sie auch meine Geschichte«, sagte Jun Do.
    Dr. Song zuckte die Achseln. »Du wirst auf jeden Fall der schwerer zu schluckende Brocken sein.«
    Einer der jungen Männer aus dem Beschaffungsteam kam mit drei identischen Uhren zu ihnen. Buc nahm sie ihm ab. »Eine für den Minister«, sagte er und händigte die beiden anderen Dr. Song und Jun Do aus. »Sie sind bereits auf texanische Zeit gestellt. Alle bekommen die gleiche, damit die Amerikaner sehen, dass wir in Korea an Gleichheit und Solidarität glauben.«
    »Und was ist mit Ihnen?«, fragte Jun Do. »Wo ist Ihre Uhr?«
    Genosse Buc antwortete: »Ich komme nicht mit nach Texas.«
    »Leider kann Genosse Buc uns nicht begleiten«, sagte Dr. Song. »Er hat einen anderen Auftrag.«
    Genosse Buc stand auf, blieb aber noch bei ihnen stehen: »Ich geh dann mal mein Team einweisen.«
    Die Stewardess kam mit heißen Waschlappen vorbei und händigte Dr. Song einen aus.
    »Was muss ich bloß tun?«, klagte Genosse Buc, als sie wieder weg war.
    »Sie kann nicht anders«, sagte Dr. Song. »Frauen sprecheneinfach instinktiv auf den Charme älterer Männer an. Es ist ja allgemein bekannt, dass nur ältere Männer Frauen wirklich befriedigen können.«
    Genosse Buc lachte. »Und ich dachte, Sie würden immer behaupten, nur zierliche Männer könnten Frauen wirklich befriedigen.«
    Dr. Song verteidigte sich: »Mich kann man wohl kaum als zierlich bezeichnen! Ich habe genau die Größe unseres Geliebten Führers, bis hin zur Schuhgröße.«
    »Das stimmt«, sagte Genosse Buc. »Ich beschaffe ja auch Kleidung für den Geliebten Führer. Die zwei gleichen sich wie ein Ei dem andern.«
    *
    Jun Do saß am Fenster, während sie nach Norden über Sachalin, Kamtschatka und das Meer vor Ochotsk flogen, wo der Kapitän auf dem Gefängnisschiff eingesessen hatte, irgendwo da unten im Blau. Sie flogen auf der Nordroute, dem Sonnenuntergang davon und der Mitternachtssonne entgegen. Zum Auftanken landeten sie auf dem russischen Militärstützpunkt Anadyr; die älteren Piloten kamen und bestaunten die, wie sie errechneten, siebenundvierzig Jahre alte Iljuschin Il-62. Sie fuhren dem Flieger mit den Händen über den Bauch und redeten über die vielen technischen Probleme, die bei späteren Modellen behoben worden waren, und jeder hatte ein haarsträubendes Abenteuer zu erzählen, das er im Cockpit der Iljuschin erlebt hatte, bevor die letzten Exemplare Ende der Achtziger nach Afrika verscherbelt worden waren. Der Lotse aus dem Kontrollturm kam auf sie zu, ein kräftiger Mann, dem man die im Laufe des Lebens erlittenen Erfrierungen ansah. Der Fluglotse erzählte, dass sogar die Nachfolgemodelleder Iljuschin – die frühen Antonows und Tupolews – heutzutage rar waren. »Ich habe gehört, die letzte Iljuschin Il-62 sei 1999 in Angola abgestürzt«, fügte er hinzu.
    Dr. Song erwiderte auf Russisch: »Wie ungemein traurig, dass Ihre einst so große Nation, die dieses hervorragende Flugzeug entwickelt hat, nun nicht mehr dazu in der Lage ist.«
    Genosse Buc fügte hinzu: »Wir dürfen Ihnen versichern, dass der vollständige Zusammenbruch Ihres Landes bei unserem Volk große Trauer ausgelöst hat.«
    »Genau«, bekräftigte Dr. Song. »Ihr Land und das unsrige waren früher die doppelte Speerspitze des Kommunismus in der Welt. Jetzt müssen wir diese Last ganz allein tragen.«
    Genosse Buc klappte einen Koffer voll neuer Hundert-Dollar-Noten auf, um den Treibstoff zu bezahlen, aber der Fluglotse schüttelte den Kopf.
    »Euros«, sagte er.
    Empört erwiderte Dr. Song: »Ich

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