Das geraubte Paradies
tun und lassen können sollte, was er will?«
»Nicht schon wieder! Immer noch! Sie wollen es ja offensichtlich nicht verstehen, genauso wenig wie die Erdenwacht selbst.«
»Was möchtest du damit sagen?«
»Ich weiß alles. Ich habe gesehen, was Sie in Ihrer Zentrale machen. Die Erdenwacht hat überall auf der Welt ihre Spione, überwacht jedes Ratsgebäude und jeden Königssitz. Sie sind schuld daran, dass alle Länder leiden müssen. Sie unterdrücken jede Entwicklung und jede Veränderung zum Besseren. Und warum? Weil Sie nicht wollen, dass jemand so mächtig wird, dass er Ihnen Ihre schöne Rolle als Gott streitig machen kann.«
Freemans Miene verdüsterte sich. »Du hast ja keine Ahnung. Nach wie vor hast du keine Ahnung, was wirklich vor sich geht. Soll ich dir eine Geschichte erzählen aus der Zeit, bevor es die Erdenwacht gab? Wie es der Zufall will, bin ich alt genug, um diese Zeit miterlebt zu haben. Die Menschen damals hatten alles, was man sich nur wünschen konnte. Die technischen Möglichkeiten waren atemberaubend. Selbst das, was uns hier im Tal geblieben ist und was dir wie Magie erscheinen mag, ist nur ein schaler Rest unseres damaligen Potenzials. Wir hätten wie im Paradies leben können. Doch leider entwickelte sich mit dem Wissen der Menschheit nicht gleichzeitig ihre Moral – im Gegenteil. Die Leute führten ein Leben wie im Rausch. Man kannte keine Hemmungen und keine Grenzen. Dann begannen die Probleme, und statt sich zusammenzuraufen und gemeinsam etwas dagegen zu unternehmen, setzte ein Wettstreit ein. Jeder wollte nur noch mehr für sich haben. Wie es auf der anderen Seite des Globus aussah, war egal. Diese Einstellung gipfelte im Sternenfall, in den Dunklen Jahren, in einem grauenvollen Weltkrieg, der unendlich viele Todesopfer forderte. Die Weitsichtigen, die sich in dieses Tal zurückgezogen hatten, begriffen, dass sie die Gnade, verschont worden zu sein, nutzen mussten. Sie machten es sich zur Aufgabe, der Menschheit zukünftig ein guter Hirte zu sein.«
»So sehen Sie sich also?« Carya konnte es kaum fassen. »Als
gute Hirten
? Dann sind Sie verblendeter, als ich dachte. Die Dunklen Jahre sind seit Jahrzehnten vorbei, und trotzdem herrschen überall Hunger und Not. Die Menschen leben in Angst. Grausame Fanatiker wie Großinquisitor Aidalon herrschen über uns, Männer, denen Sie Einhalt gebieten könnten, doch stattdessen unterstützen Sie sie. Die Erdenwacht unterdrückt alles, was gut ist und die Menschen weiterbringen könnte, weil sie Angst hat, dadurch unnötig zu werden. Es ist doch überall das Gleiche!«
Freeman schüttelte müde den Kopf. »Dein Zorn mag gerecht sein, denn es liegt wirklich einiges im Argen in der Welt. In Arcadion regiert ein fanatischer religiöser Orden. In Francia feiert ein prunksüchtiger Kaiser dekadente Feste, während sein Volk nebenan in einer zertrümmerten Stadt hausen muss. In Austrogermania herrscht ein strenges Elitedenken. Wer gewissen Anforderungen nicht genügt, wird wie Dreck behandelt. Andere Länder sind nicht besser. Aber das ist nicht unsere Schuld. Glaubst du ernsthaft, die Erdenwacht wäre mächtig genug oder hätte auch nur ein Interesse daran, so viel Bosheit, Neid, Gier und Kleingeistigkeit in die Welt zu setzen? Nein, Carya, diese Menschen sind aus eigenem Antrieb so. Die Menschen sind von Natur aus schwach und fehlerhaft. Es kostet sie unglaubliche Mühen, gut und moralisch zu handeln. Viel leichter fällt es ihnen, auf dunklen Wegen zu wandeln. Und weil das so ist, haben wir uns entschieden, dafür zu sorgen, dass dabei zumindest kein größerer Schaden mehr angerichtet wird. Dass der Lux Dei einzelne Invitros jagt und tötet, bedaure ich zutiefst. Aber stell dir vor, er hätte die Möglichkeiten, die ihm die frühere Technik geboten hätte. Das Morden würde nicht enden, es nähme vielmehr grauenvolle Dimensionen an. Und denk dir nur, der Mondkaiser und der König von Austrogermania besäßen das Wissen der Erdenwacht. Würden sie die Welt in eine bessere verwandeln? Mitnichten! Ihre Machtgier würde sie nur in eine neue Spirale Richtung Untergang treiben. Die Katastrophe ginge genau da weiter, wo sie damals aufgehört hat. Die Menschheit würde sich ein viertes Mal selbst vernichten. Nicht heute, nicht morgen, aber in hundert Jahren. Das kann und wird die Erdenwacht nicht zulassen!«
Carya ballte die Fäuste. »Wie können Sie die Menschen beurteilen, wenn Sie sie doch gar nicht kennen? Seit Jahrzehnten sitzen Sie in
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