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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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und füllte die Eßnäpfe, und sonntags morgens hatte er keine Zeit. Dann bekam er regelmäßig einen Riesenpacken alter Zeitungen in die Zelle. Flüchtig las er die Reden der großen Staatsmänner, dann zerriß er sie (die Reden) in handtellergroße Blätter. Dahin ging sein Auftrag. Diese Blätter wurden bei der Ausgabe der Mittagskost mit durch die Klappe gereicht. Jede Zelle bekam vierunddreißig Blatt. Bis zum nächsten Sonntag. Als Toilettenpapier. (Flüchtig wurden die verzettelten Reden der großen Staatsmänner gelesen und dann verbraucht, die Reden.) Man war Mitglied eines kultivierten Staates.
    Auch Nummer Siebzehn legte sein Ohr nicht an die Tür seiner Zelle, um an dem sonntäglichen Gespräch teilzunehmen. Denn er weinte. Er war sechzehn Jahre alt und weinte. Es war Sonntag und er war im Gefängnis, und er hatte ein Fahrrad gestohlen. Er weinte tränenlos, trostlos, lautlos. Der ganze ganz erbärmliche Kummer der Menschheitsgeschichte fuhr auf schrill klingelnden Fahrrädern über die bekritzelten Wände der Zelle: Fahrräder – Fahrräder – stundenlang klingelten die Fahrräder. Er weinte, denn zu Hause hatten sie Sonntag, aßen Topfkuchen und dachten an ihn. Sie dachten an ihn, Gott ja, aber sie hatten auch Topfkuchen. Deswegen weinte Nummer Siebzehn am Sonntag morgen acht Uhr vierzig und hielt sein Ohr nicht an die Tür seiner Zelle.
    Und Nummer Neun? Nummer Neun konnte sein Ohrnicht an die Tür seiner Zelle legen, weil er seinen Mund dort hatte. Er hatte seinen Mund dort jeden Sonntag morgen. Dann mußte er in einer dringenden Angelegenheit den Abteilungsführer Herrn Wachtmeister Soboda sprechen. Und Wachtmeister Soboda hörte nicht gut. Deswegen mußte Nummer Neun seinen Mund an die Tür seiner Zelle legen.
    Und dann – der Eisennagelschritt donnerte gemütvoll heran – erlebten alle Häftlinge der Abteilung des Wachtmeisters Soboda kopfschüttelnd oder kichernd ihr sonntägliches Erlebnis. Nur Nummer Eins nicht, der politische Reden zu Toilettenpapier zerriß. Und Nummer Siebzehn nicht, der weinte.

    Was ist los, Nummer Neun?
    Ich bitte, den Herrn Wachtmeister sprechen zu dürfen.
    Ja, los.
    Ich bitte fragen zu dürfen, ob ich in den Besitz meiner Zahnbürste gelangen kann.
    Wo ist die, Nummer Neun?
    Bei meinem Gepäck.
    Nein.
    Doch, Herr Wachtmeister –
    Ja, kann sein, daß sie da ist. Aber Sie kriegen sie nicht.
    Ließe es sich nicht vielleicht doch einrichten, daß ich ausnahmsweise meine Zahnbürste ausgehändigt bekommen würde?
    Nein.
    Und – warum nicht, bitte, Herr Wachtmeister?
    Weil die Gefangenen nicht bei ihrem Gepäck bei dürfen.
    Warum dürfen sie nicht dabei, Herr Wachtmeister?
    Es ist verboten.
    Und könnten Sie nicht vielleicht, Herr Wacht – –
    Nein.
    Und warum geht das nicht, Herr – –
    Weil die Beamten nicht bei dem Gepäck bei dürfen.
    Aber warum nicht, wenn ich – –
    Es ist verboten.
    Warum ist das denn auch verboten?
    Es war immer schon verboten.
    Könnte man denn keine Ausnahme machen, Herr Wacht – – Nein.
    Warum denn nicht, Herr – –
    Weil es verboten ist, sag ich Ihnen doch!
    Könnte man denn nicht ein einziges Mal – es handelt sich doch nur um eine Zahnbürste!
    Nein.
    Warum nicht, Herr Wacht –
    Weil es noch nie so war.
    Ja, aber warum geht es denn nicht?
    Weil die Gefangenen nicht bei ihrem Gepäck bei dürfen.
    Wäre es denn nicht vielleicht möglich, daß Sie, Herr Wacht –
    Nein.
    Und warum – wohl – nicht?
    Weil die Beamten nicht bei dem Gepäck bei dürfen.
    Herr Wachtmeister, ich bitte fragen zu dürfen –
    Los, ja!
    Wie soll ich mich am besten verhalten?
    Wie?
    Ja, wenn ich meine Zahnbürste haben möchte.
    Ach so, wenn Sie das. Ja, schreiben Sie ein Gesuch.
    Könnte ich denn wohl heute noch Papier bekommen? Und Tinte, Herr Wacht –
    Nein.
    Warum nicht, Herr W –
    Weil Sie nur alle acht Wochen schreiben dürfen. Sie haben erst vor vier Wochen geschrieben.
    Aber doch an meinen Anwalt.
    Das tut nichts!
    Gibt es denn gar keine –
    Nein.
    Ich kann doch nicht monatelang ohne Zahnbürste hier rumhocken!
    Freuen Sie sich, daß Sie Ihren Kopf oben behalten. Die vier Jahre werden Sie auch noch überleben.
    Aber das ist ja entsetzlich. Ich kann doch nicht achtundvierzig Monate ohne Zahnbürste!
    Was können Sie nicht? Ich will Ihnen mal was sagen. Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt geworden und hab mein Lebtag so ein Ding nicht angerührt. Mein ganzes Dorf zu Hause kennt solche Spielerei nicht. Und sind alle alt geworden. Auch ohne

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