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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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nach Hause kam. Laut schrie sie auf, die sterbende, zerbrochene alte Mauer und fragte mit ihrem letzten knisternden Atem den jungen Wind:
    Warum? Warum hast du das getan? Ich liebte sie doch!
    Aber der Wind lachte, als es mit der Mauer zu Ende ging. Er hatte überschüssige Kraft und war uralt an Weisheit. Er lachte über das Leben, denn er wußte, daß es so kommen mußte. Und er hatte kein Herz, der uralte junge Wind.
    Aber er konnte weich sein, wenn er wollte. Und so sang er die alte Mauer, die unter Seufzern starb, weil sie vier Menschen erschlug, in den ewigen Schlaf.
    Aber dann lacht er wieder, der junge Wind, denn er überdauert alles: Stein und Straße und selbst die unsterbliche Liebe.

Ein Sonntagmorgen
    Die Morgenandacht im Radio war orgeldröhnend zu Ende gegangen. Amen. Der liebe Gott war immer noch ein tüchtiger Mann. Halleluja. Wachtmeister Sobodas kurzfingrige, viereckige Hand drehte das Radio lauter. Man machte Marschmusik. Er liebte Marschmusik. Dann nahm er die schweißigledern stinkende Dienstmütze vom Tisch, blubberte noch mal ein Amen, und stülpte sie wieder auf seinen wie gebohnerten Kopf. Der harte Rand der Mütze grub sich in die furchige Falte, die ihr jahrzehntelanges vorschriftsmäßiges Tragen auf dem Kugelkopf hinterlassen hatte. In diese Furche mußte der Mützenrand einrasten, dann war alles in Ordnung: Die Mütze saß akkurat zwei Fingerbreit über den Ohren. So hatten es vor Generationen die Gelehrten in den Dienstverordnungen unwiderruflich festgelegt. Die immer gerötete Furche, die die Billardkugel umkreiste, war das Sinnbild soldatischen Gehorsams. Mit der geröteten Furche zwei Fingerbreit über den Ohren wurde eine uralte Tradition in Ehren und hochgehalten, auch wenn die Natur immer noch nicht dazu übergegangen war, Einheitsköpfe für Dienstmützen zu basteln. Amen also – die Mütze saß.
    Dann machte er sein Taschenmesser auf. Es war ein schönes Messer, wenn es auch nur die eine Klinge hatte. Aber die Klinge war gut. Ein schönes Messer. Das heißt, im Grunde genommen war es grob, gewöhnlich und gewalttätig. Aber er fand, es wäre ein schönes Messer. Es war auch schön. Man konnte einfach und durchweg alles damit bewerkstelligen. Alles: Obstbäume veredeln, Shagpfeifen auskratzen, Brot schneiden, Uhren auseinandernehmen, Fingernägel saubermachen, Bleistifte anspitzen, Kunsthonig tranchieren. Es war ein großartiges Messer. Und es hatte den unergründlichenZaubergeruch eines orientalischen Märchens: Holz, Tabak, Brot, Uhrenöl und Honig.

    Heute morgen war Sonntag, und drei Düfte, die drei typischen Sonntagsvormittagsdüfte, umhauchten die etwas müde, aber immer noch gewissenhafte Klinge: Tabakgeruch vom Säubern der Pfeife vor der Andacht – Erdgeruch, Kleingartenerdgeruch vom allsonntäglichen Reinigen der Fingernägel während der Andacht – und drittens Kunsthoniggeruch vom Tranchieren eines steinharten Honigblockes nach der Andacht. Und dieses Honigtranchieren war die wichtigste Zeremonie des Sonntagmorgens, und dazu war das Messer aufgemacht worden.
    Nachdem ein kleiner klebriger Kubus Kunsthonig hinter den nikotingefärbten Zahnstummeln verstaut war, schob er, denn anders stand er niemals auf, mit gewaltigem Schurren den Bock nach hinten und kam mit Hilfe seiner Viereckhände, die er auf den fettscheckigen, tintenklecksigen Tisch stützte, auf die Beine. Dann langte er nach einem schwarzgelackten Lederriemen, an dessen Innenseite groß und leserlich, grob mit Tintenstift, zwei Worte aufgemalt waren: Wachtmeister Soboda. Der Würfel künstlichen Honigs wechselte von der linken Backe zur rechten über, dann hob Wachtmeister Soboda vorschriftsmäßig das linke Bein und begann seinen Dienst: Zweiter Kontrollgang zu den Zellen Nummer 1 bis 20. Sonntagmorgen. Acht Uhr vierzig.

    Als der eisenbenagelte und doch gemütvolle Schritt (der einem alten O-beinigen Lastenträger gehören konnte) am Ende des sonntagsstillen, friedlich verstaubten Korridors hörbar wurde, legten alle Häftlinge, die zur Abteilung des Wachtmeisters Soboda gehörten, ihr Gesicht in erwartungsvolle Sonntagsfalten und ihre Ohren an die Türen ihrerZellen. Genießerisch erwarteten sie das allsonntägliche Gespräch mit Nummer Neun. Nur drei Insassen der dicken, dummen Mauern taten das nicht: Nummer Eins. Nummer Siebzehn und Nummer Neun.
    Nummer Eins hatte keine Zeit. Er war Lebenslänglicher und hatte es in dreiundzwanzig Jahren zum Kalfaktor gebracht. Das heißt: Er leerte die Abortkübel

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