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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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drei- bis vierhundert Gesichter an den Tischen waren stumm und glotzäugig auf unseren Abgang konzentriert.
    Und plötzlich tat mir der kleine Kellner leid. Als wir am Ausgang des Gartens um die Ecke biegen wollten, sah ich mich schnell noch einmal nach ihm um. Er stand noch immer an unserem Tisch. Sein weißes Serviettentuch hing bis auf die Erde. Er schien mir noch viel viel kleiner geworden zu sein. So klein stand er da und ich liebte ihn plötzlich, als ich ihn so verlassen hinter uns herblicken sah, so klein, so grau, so leer, so hoffnungslos, so arm, so kalt und so grenzenlos allein! Ach, wie klein! Er tat mir so unendlich leid, daß ich meinen Onkel an die Hand tippte, aufgeregt, und leise sagte: «Ich glaube, jetzt weint er.»
    Mein Onkel blieb stehen. Er sah mich an und ich konnte die beiden dicken Tropfen in seinen Augen ganz deutlich erkennen. Noch einmal sagte ich, ohne genau zu verstehen, warum ich es eigentlich tat: «Oh, er weint. Kuck mal, er weint.»
    Da ließ mein Onkel den Arm meiner Mutter los, humpelte schnell und schwer zwei Schritte zurück, riß seinenKrückstock wie ein Schwert hoch und stach damit in den Himmel und brüllte mit der ganzen großartigen Kraft seines gewaltigen Körpers und seiner Kehle:
    «Schischyphusch! Schischyphusch! Hörscht du? Auf Wiederschehen, alter Schischyphusch! Bisch nächschten Schonntag, dummesch Luder! Wiederschehen!»
    Die beiden dicken Tränen wurden von den Falten, die sich jetzt über sein gutes braunes Gesicht zogen, zu nichts zerdrückt. Es waren Lachfalten und er hatte das ganze Gesicht voll davon. Noch einmal fegte er mit seinem Krückstock über den Himmel, als wollte er die Sonne herunterraken, und noch einmal donnerte er sein Riesenlachen über die Tische des Gartenlokals hin: «Schischyphusch! Schischyphusch!»
    Und Schischyphusch, der kleine graue arme Kellner, wachte aus seinem Tod auf, hob seine Serviette und fuhr damit auf und ab wie ein wildgewordener Fensterputzer. Er wischte die ganze graue Welt, alle Gartenlokale der Welt, alle Kellner und alle Zungenfehler der Welt mit seinem Winken endgültig und für immer weg aus seinem Leben. Und er schrie schrill und überglücklich zurück, wobei er sich auf die Zehen stellte und ohne sein Fensterputzen zu unterbrechen:
    «Ich verstehe! Bitte schehr! Am Schonntag! Ja, Wiederschehen! Am Schonntag, bitte schehr!»
    Dann bogen wir um die Ecke. Mein Onkel griff wieder nach dem Arm meiner Mutter und sagte leise: «Ich weisch, esch war schicher entschetschlich für euch. Aber wasch schollte ich andersch tun, schag schelbscht. Scho’n dummer Hasche. Läuft nun schein ganschesch Leben mit scho einem garschtigen Schungenfehler herum. Armesch Luder dasch!»

Von drüben nach drüben
    Oh, Charlotte! Du, kuck dir bloß mal den da an! Da, den kleinen Kurzgeschorenen. Der kommt sicher von drüben, weißt du. Der tut noch so neu. Die tun alle so.
    Was sucht der denn bloß an den Bäumen, möcht ich mal wissen. Vielleicht ’n Ast zum Aufhängen.
    Na, denn laß ihn man.
    Die beiden Straßenarbeiter, die damit beschäftigt waren, die Rillen zwischen den frischgepflasterten Steinen mit Teer vollzugießen, nahmen ihre langhalsigen Kannen wieder auf und ließen mit der heißen schwarzen Soße ein gutgezieltes quadratisches Muster auf die Straße kleckern.
    Mit «drüben» meinten sie das Gefängnis, dessen dicke dunkelrote Mauer die andere Straßenseite gegen den Gefängnishof abgrenzte. Auf der Mauer, über die einige trostlos flachdachige Gebäude mit endlosen Reihen vergitterter Fenster behördlich sachlich herüberragten, lagen Nägel und Glasscherben. Das sagte man jedenfalls. Ausprobiert hatte es noch keiner.
    Der «sicher von drüben kam», war klein, mager, müde und kurzgeschoren. Mit dem linken Ellbogen klemmte er sich einen mit Stiefelbändern verschnürten Pappkarton gegen die Rippen. Auf dem Deckel war in grüner großer Schrift zu lesen, daß Persil Persil bleiben würde. Dagegen konnte keiner etwas einwenden. Persil war vor sieben Jahren Persil gewesen und Persil würde wohl auch noch die nächsten sieben Jahre Persil bleiben. Nur aus dem Buchhalter Erwin Knoke war inzwischen der Kurzgeschorene Nummer 1563 geworden. Aber Persil war Persil geblieben. Die ganzen sieben Jahre.
    Der Kurzgeschorene stand und stierte die Bäume an. Starr. Stur. Manchmal machte er eine ängstlich ausweichende Bewegung.
    Daran erkannte man, daß er noch neu war. Und ungewohnt. Er fürchtete, mit einem der Vorübereilenden

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