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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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zusammenzustoßen oder ihnen im Wege zu stehen. Nachher schlug der ihn womöglich mit dem Schlüsselbund auf den Hinterkopf oder ließ ihn Kniebeugen machen. Bei jeder Kniebeuge einen Tritt in den Hintern. Gratis dazu. Er wußte eben nicht mehr, denn es war ja wieder ganz neu und ungewohnt, daß brave Zivilisten so etwas durchaus verabscheuen. Die würden eher sagen, wenn man zusammengestoßen war: Pardon. Tschuldigung. Aber Kniebeugen? Dazu mußte man wohl Uniform anhaben. Ja, und das hatte der Kurzgeschorene, der von da drüben kam, eben vergessen. Dazu war er noch zu neu wieder.
    Er war enttäuscht. Wenn er Tränen gehabt hätte, würde er seine blassen grauen Augen damit gefüllt haben. Er hätte gerne leise etwas geweint. Aber das hatte man sich ganz abgewöhnt. Man hatte meistens gelacht. Das hält man besser aus. Weinen macht nur noch weicher. Er war enttäuscht und stierte die Bäume an. Stur. Starr. Die Bäume waren es nämlich, die ihn so maßlos enttäuschten. Nun starrte er sie stur an und wurde dabei ganz arm. Die Bäume, die sieben Jahre lang seine Bäume, seine lebendigen allesverheißenden Bäume gewesen waren, hatte er in diesem Augenblick, wo man ihn drüben entlassen hatte, verloren. Er stierte sie an. Nein, das waren sie nicht. Seine Bäume nicht.
    Nicht daß er ein so großer Naturfreund oder vielleicht ein Forstbeamter oder Gärtner gewesen wäre, da er sich soviel aus den Bäumen machte. Er war Buchhalter und hatte keine Ahnung von Bäumen. Die große Stadt war seine Heimat und da waren Laternenpfähle häufiger als Bäume.
    Für ihn waren Bäume entweder Wald oder Obstbäume. Daß sie auch Namen haben, wußte er nur undeutlich. Daß diese Bäume hier Linden waren, hätte ihn wahrscheinlichsehr erstaunt. Bäume waren entweder Wald oder Obstbäume. Vielleicht noch Allee. Oh, manchmal konnten Bäume Allee sein.
    Wenn spätnachmittags die Sonne das Muster des Gitterfensters an die hintere Wand seiner Zelle warf und das Licht zwischen den vier Wänden müde und milde wurde, hatte er auf seinem Schemel unter dem Fenster gestanden und auf den dämmernden Abend gewartet. Dann war er mit schlenkernden Armen und großen feierlichen Schritten die Allee hinaufgegangen. Die Allee hinauf, die dort drüben hinter der Mauer war. Wohin? Dahin, hinauf, weg. Ganz weit weg. Jeden Abend hatte er seine Zelle verlassen und war seine Allee mit den lebendigen schönen schönen Bäumen, die so lebendig und grün waren, hinaufgegangen. Jeden Abend. Zweitausendfünfhundertmal in sieben Jahren. Ganz weit weg. Weg. Weg. Liebe, gute Allee. An ihrem Ende, kurz vor dem Schloß (denn ein Schloß stand todsicher am Ende der Allee. Das taten Schlösser immer.) winkte seine Frau mit seinen beiden Kindern. Sie hatten einen Korb mit Kartoffelpuffern bei sich. Und sie riefen: Oh, wie haben wir gewartet! Wo warst du bloß so lange? Willst auch einen Kartoffelpuffer?
    Und seine Frau hatte ihm heimlich den Arm in die Rippen gestochert und geflüstert: Das war aber viel zu lange, Erwin! Nun stierte er abgrundtief traurig die Bäume an und sie enttäuschten ihn ohne Maß. Sie gehörten einer ganz gewöhnlichen grauen häßlichen lauten Straße, auf der ganz gewöhnliche Leute gingen und ganz gewöhnliche Autos und Bahnen fuhren. Leute, wie: Briefträger, Volksschullehrer, Klempnermeister, Feinkostverkäufer, Büroangestellte, Friseurinnen, Musiker und Rechtsanwälte. Und Milchautos, die nach Käse dufteten, Feuerwehrautos, Taxis, Wäscheautos. Die Straße war lieblos und lärmend unddie Bäume waren grau und staubig. Kinder pulten an ihrer Rinde herum und Hunde pinkelten achtlos gegen die grauen Stämme.
    Langsam ging der Kurzgeschorene weiter. Einmal sah er sich noch nach den Bäumen um. Er begriff nicht. Das war alles zu grau, zu nackt, zu unerbittlich. Aber er weinte nicht, als er plötzlich so arm war. Er lachte. Verlegen. Aber er lachte. Das hatten sie sich drüben so angewöhnt. Er lachte und stierte die lügenhaften dummerhaftigen dreckigen Bäume an und lachte. Und dann lachte er plötzlich noch lauter und nicht mehr so verlegen, als ihm einfiel, daß er die Allee ja gar nicht mehr brauchte. Wozu brauchte er jetzt noch eine Allee mit schönen grünen Bäumen? Zu nichts mehr. Sollte die häßliche Straße doch hingehen, wohin sie wollte! Er hatte weißgott keine Allee mehr nötig. Nein! Weißgott nicht! Er würde sich gleich auf die Bahn schwingen und in spätestens einer Stunde würde er Kartoffelpuffer essen. Zehn, oder auch

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