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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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Breitgedrückte friedlich und mohnblütenfarbig auf das Pflaster rieseln ließ.
    Der Fahrer des mordlustigen Wäscheautos, das vielleicht eine Ladung persilgewaschener Wäsche an Bord hatte, bückte sich schwitzend (und mehr anstandshalber als tatsächlich besorgt) zu seinem Opfer herunter. Dann brummte er mißmutig: Nee, der ist drüben. Der ist drüben.
    Oh, Charlotte! Der hat sich was verändert! Junge, so was! meinte der eine Teergießer und kaute den letzten Fetzen Mettwurst andächtig in kleine Stückchen.
    Gott, wie originell! schrillte eine junge Frau ihren bebrillten Begleiter an und fragte ihn, ob er das gehört hätte.
    Wieso oh Charlotte? fragte übermäßig gutgelaunt der junge Polizist und sah sonnig lachend von seinem Notizbuch auf. Auf jeden Fall sollte man merken, daß er trotz seiner Jugend vollkommen über der Situation stand.
    Ach, das ist weiter nichts, schmunzelte der mettwurstessende Teergießer, so hieß meine erste Frau.
    Witwer? fragte der Polizist interessiert.
    Nee, geschieden, machte der andere.
    Das war wohl ein Fremder, sagte eine ältere Dame. Und alle sahen wieder auf den Menschenrest in ihrer Mitte. Beinahe hätten sie ihn vergessen.
    Nee, schüttelte der Fahrer mit dem Kopf, das ist nicht zu ändern. Der ist drüben. Restlos.
    Als die beiden Straßenarbeiter am späten Nachmittag mit leeren Kaffeeflaschen nach Hause fuhren, fiel dem einen in der Bahn noch ein:
    Du, der würde sich schön geärgert haben, der Kleine, wenn er noch könnte. Wo er gerade da drüben raus war. So ein Kerl.
    (Aber der Teermann irrte sich. Erwin Knoke, jetzt weder Buchhalter noch Nummer 1563, sondern nur noch Erwin Knoke, strolchte abenteuernd mit einem fabelhaften Pusterohr und unermeßlich vielen Teerkugeln durch die ewigenJagdgründe Winnetous. Und er schoß und traf mit seinen selbstgekneteten Teerkugeln alles, was er wollte. Er hatte immer noch seine Indianerbücher gelesen und die ewigen Jagdgründe spukten, in Ermangelung einer anderen Ewigkeitsvorstellung, immer noch heimlich in ihm herum. Das war sein einziges bescheidenes kleines Laster gewesen.)

Gottes Auge
    Gottes Auge lag rund und rotgerändert mitten in einem weißen Suppenteller. Der Suppenteller stand auf unserem Küchentisch. Blutfleckige Eingeweide und das milchbleiche Skelett eines größeren Fisches ließen den Küchentisch aussehen wie ein Schlachtfeld. Das Auge in dem weißen Teller gehörte einem Kabeljau. Der lag in großen weißfleischigen Stücken in unserem Topf und ließ sich kochen. Das Auge war ganz allein. Es war Gottes Auge.
    Du mußt nicht immer mit der Gabel das Auge auf dem Teller hin- und herrutschen lassen, sagte meine Mutter.
    Ich ließ das glatte runde Auge durch die Kurven des Suppentellers sausen und fragte: Warum denn nicht? Er merkt es doch nicht mehr. Er kocht doch.
    Man spielt nicht mit einem Auge. Das Auge hat der liebe Gott genau so gemacht wie deins, sagte meine Mutter.
    Während ich die sausende Rundfahrt des Kabeljauauges plötzlich abbrach, fragte ich: Das soll vom lieben Gott sein?
    Natürlich, antwortete meine Mutter, das Auge gehört dem lieben Gott.
    Nicht dem Kabeljau, bohrte ich weiter.
    Dem auch. Aber in der Hauptsache dem lieben Gott.
    Als ich von dem Teller aufsah, merkte ich, daß meine Mutter weinte. An diesem Tag, wo es bei uns Kabeljau gab, war mein Großvater gestorben. Meine Mutter weinte und ging hinaus. Da zog ich den Teller mit dem einsamen Auge mittendrin, mit dem rotgeränderten Auge, das Gott gehören sollte, ganz dicht an mich heran. Ganz dicht brachte ich meinen Mund über den Teller.
    Du bist das Auge vom lieben Gott? flüsterte ich, dann kannst du wohl auch sagen, warum Großvater heute mit einmal tot ist. Sag das, du!
    Das Auge sagte es nicht.
    Das weißt du nicht mal, wisperte ich triumphierend, und du willst das Auge vom lieben Gott sein, und weißt nicht mal, warum Großvater tot ist. Kommt er denn auch nicht wieder, Großvater, fragte ich dicht über dem Teller, weißt du denn, ob er noch mal wiederkommt, du, sag das doch. Du mußt das doch wissen. Kommt er nun nie wieder?
    Das Auge sagte es nicht.
    Ganz dicht hielt ich meinen Mund an das Auge und fragte noch einmal eindringlich und ernst: Du, sehen wir Großvater denn nicht wieder, du? Sag das doch. Sehen wir ihn noch mal wieder? Wir können ihn doch noch mal irgendwo treffen, nicht? Du, sag doch, treffen wir ihn wieder? Du, sag das, du bist doch vom lieben Gott, sag das!
    Das Auge sagte es nicht.
    Da stieß ich den Teller

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