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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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verrostet und voll Moos.
    Und dann zeigte er auf das Skelett. Lach bitte nicht, sagte er, aber das bin ich. Kannst du das verstehen? Du kennst mich doch. Sag doch selbst, kann ich das hier sein? Meinst du? Findest du das nicht furchtbar fremd? Es ist doch nichts Bekanntes an mir. Man kennt mich doch gar nicht mehr. Aber ich bin es. Ich muß es ja sein. Aber ich kann es nicht verstehen. Es ist so furchtbar fremd. Mit all dem, was ich früher war, hat das nichts mehr zu tun. Nein, lach bitte nicht, aber mir ist das alles so furchtbar fremd, so unverständlich, so weit ab.
    Er setzte sich auf den dunklen Boden und sah traurig vor sich hin. Mit früher hat das nichts mehr zu tun, sagte er, nichts, gar nichts.
    Dann hob er mit den Fingerspitzen etwas von der dunklen Erde hoch und roch daran. Fremd, flüsterte er, ganz fremd. Er hielt mir die Erde hin. Sie war wie Schnee. Wie seine Hand war sie, mit der er vorhin nach mir gefaßt hatte: Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.
    Riech, sagte er.
    Ich atmete tief ein.
    Na?
    Erde, sagte ich.
    Und?
    Etwas sauer. Etwas bitter. Richtige Erde.
    Aber doch fremd? Ganz fremd? Und doch so widerlich, nicht?
    Ich atmete tief an der Erde. Sie roch kühl, lose und leicht. Etwas sauer. Etwas bitter.
    Sie riecht gut, sagte ich. Wie Erde.
    Nicht widerlich? Nicht fremd?
    Radi sah mich mit ängstlichen Augen an. Sie riecht doch so widerlich, du.
    Ich roch.
    Nein, so riecht alle Erde.
    Meinst du?
    Bestimmt.
    Und du findest sie nicht widerlich?
    Nein, sie riecht ausgesprochen gut, Radi. Riech doch mal genau.
    Er nahm ein wenig zwischen die Fingerspitzen und roch.
    Alle Erde riecht so? fragte er.
    Ja, alle.
    Er atmete tief. Er steckte seine Nase ganz in die Hand mit der Erde hinein und atmete. Dann sah er mich an. Du hast recht, sagte er. Es riecht vielleicht doch ganz gut. Aber doch fremd, wenn ich denke, daß ich das bin, aber doch furchtbar fremd, du.
    Radi saß und roch und er vergaß mich und er roch und roch und roch. Und er sagte das Wort fremd immer weniger. Immer leiser sagte er es. Er roch und roch und roch.
    Da ging ich auf Zehenspitzen nach Hause zurück. Es war morgens um halb sechs. In den Vorgärten sah überall Erde durch den Schnee. Und ich trat mit den nackten Füßen auf die dunkle Erde im Schnee. Sie war kühl. Und lose. Und leicht. Und sie roch. Ich stand auf und atmete tief. Ja, sie roch. Sie riecht gut, Radi, flüsterte ich. Sie riecht wirklich gut. Sie riecht wie richtige Erde. Du kannst ganz ruhig sein.

An diesem Dienstag
    Die Woche hat einen Dienstag.
    Das Jahr ein halbes Hundert.
    Der Krieg hat viele Dienstage.

    An diesem Dienstag
    übten sie in der Schule die großen Buchstaben. Die Lehrerin hatte eine Brille mit dicken Gläsern. Die hatten keinen Rand. Sie waren so dick, daß die Augen ganz leise aussahen.
    Zweiundvierzig Mädchen saßen vor der schwarzen Tafel und schrieben mit großen Buchstaben:
    DER ALTE FRITZ HATTE EINEN TRINKBECHER AUS BLECH. DIE DICKE BERTA SCHOSS BIS PARIS. IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
    Ulla kam mit der Zungenspitze bis an die Nase. Da stieß die Lehrerin sie an. Du hast Krieg mit ch geschrieben, Ulla. Krieg wird mit g geschrieben. G wie Grube. Wie oft habe ich das schon gesagt. Die Lehrerin nahm ein Buch und machte einen Haken hinter Ullas Namen. Zu morgen schreibst du den Satz zehnmal ab, schön sauber, verstehst du? Ja, sagte Ulla und dachte: Die mit ihrer Brille.
    Auf dem Schulhof fraßen die Nebelkrähen das weggeworfene Brot.

    An diesem Dienstag
    wurde Leutnant Ehlers zum Bataillonskommandeur befohlen.
    Sie müssen den roten Schal abnehmen, Herr Ehlers.
    Herr Major?
    Doch, Ehlers. In der Zweiten ist so was nicht beliebt.
    Ich komme in die zweite Kompanie?
    Ja, und die lieben sowas nicht. Da kommen Sie nicht mit durch. Die Zweite ist an das Korrekte gewöhnt. Mit dem roten Schal läßt die Kompanie Sie glatt stehen. Hauptmann Hesse trug sowas nicht.
    Ist Hesse verwundet?
    Nee, er hat sich krank gemeldet. Fühlte sich nicht gut, sagte er. Seit er Hauptmann ist, ist er ein bißchen flau geworden, der Hesse. Versteh ich nicht. War sonst immer so korrekt. Na ja, Ehlers, sehen Sie zu, daß Sie mit der Kompanie fertig werden. Hesse hat die Leute gut erzogen. Und den Schal nehmen Sie ab, klar?
    Türlich, Herr Major.
    Und passen Sie auf, daß die Leute mit den Zigaretten vorsichtig sind. Da muß ja jedem anständigen Scharfschützen der Zeigefinger jucken, wenn er diese Glühwürmchen herumschwirren sieht. Vorige Woche hatten wir fünf

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