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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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schwächsten Stelle erwischt, seiner rechten Schulter, in der sich augenblicklich und wie immer sehr schmerzhaft seine Muskulatur verspannte. Er kannte das. Maria, ausgerechnet die samtene Maria, hatte ihm so lange mit ihrem Kinderwunsch in den Ohren gelegen, daß er sich nicht mehr anders zu helfen wußte, als die Hilfe eines Masseurs in Anspruch zu nehmen. Es genügte, um ihn außer Gefecht zu setzen, eine plötzlich aufwallende Verärgerung über eine Bosheit, die mit gleicher Münze zurückzuzahlen er sich aus welchen Gründen auch immer untersagen mußte. Es genügte das Gerede eines Schwachsinnigen, der sich einem in einem Zugabteil aufdrängte, die schleppende Langeweile, die er bei allerlei offiziellen Anlässen durchlitt, die zu besuchen ihm aufgezwungen wurden, eine enttäuschte Erwartung. Es genügte ein falscher Tonfall, eine vernehmlich laut geäußerte und bewußt verletzend gemeinte Bemerkung, schon meldete sich seine Schulter, diese eine so leicht zu beleidigende Stelle über dem Schulterblatt, die nur darauf zu warten schien, ihm Probleme zu machen. Besonders häufigund hartnäckig trat dieser Schmerz natürlich bei Schwierigkeiten mit der eigenen Arbeit auf, einer Beschäftigung, für die man niemand anderen als sich selbst verantwortlich machen konnte. Aber das waren, wie er wußte, Dinge, die einem eben passierten und sich dann auf die eine oder andere Weise erledigten. Nichts, was nicht zu korrigieren wäre! Nichts Unwiderrufliches! Dagegen war die Nachricht, daß ihn das Schicksal unwiderruflich dazu verdammt haben könnte, sich in Zukunft mit einem Kind abgeben zu müssen, wie der Stich eines scharfen Messers – und seiner Schulter jeden Schmerz wert.
    Sein Herz schlug. Er suchte die Handflächen nach Zeichen einer unbekannten Krankheit ab. Oder die Krankheit war in ihm, und unsichtbar. Sie saß in seinem Kopf, der nicht mehr in Ordnung war. Einen drogensüchtigen Schriftsteller zum Vater zu haben war ja nicht gerade das, was man einem Kind wünscht. War es nicht überhaupt ein Verbrechen, in seinem Zustand ein Kind gezeugt zu haben? Wie viel Sucht war im Sperma eines Süchtigen? Kam ein Baby damit auf die Welt? Er stand auf und setzte sich wieder, stand wieder auf und fühlte sich, obwohl niemand da war, dabei beobachtet, ging ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht, nahm die in einer Packung Valium versteckten Briefchen mit dem Kokain heraus, seine letzte eiserne Ration, und spülte alles die Toilette hinunter und verließ das Badezimmer wieder und starrte dann, als er wieder saß, die Wand an, als suche er dort nach einer Erklärung, nach einem Dementi genauer gesagt; aber es zeigte sich keine Schrift, kein Hinweis, kein Urteil. Was gab es, überlegte er, was Entspannung versprach?
    Auf dem Sofa, auf dem er seine Tage zubrachte, lag ein Buch, Zärtlich ist die Nacht von Scott Fitzgerald. Es lag da, es lag immer noch da, länger als ein Jahr lang lag es schon da, übersät mit angestrichenen Stellen und an die Seitenränder geschmierten Anmerkungen; ein Buch, das Chuck immer wieder begonnen und immer wieder weggelegt hatte, ein Buch wie Champagner in einem zu schweren Glas, schwerfällig, geschwätzig, traurig, das langweilig zu finden er sich trotzdem nicht entschließen konnte, weshalb er es auch nie zurück ins Regal gestellt und immer wieder da und dort aufgeschlagen hatte. Aber um sich jetzt damit abzulenken, reichte es nicht; er konnte sich nicht konzentrieren. Aber sie waren gute alte Bekannte geworden, Dick und er. Wie Dick war auch Chuck mit einem Konflikt beschäftigt, der ihn an sein Lebensende denken ließ, aber bevor es soweit sein würde, auch an die Chancen, seine Selbstachtung, seine immer laut und prahlerisch behauptete Unabhängigkeit von jedem auf der Erde lebenden Menschen zurückzuerobern, seine ein Leben lang trotzig, mit arroganter Konsequenz eingeübte Selbständigkeit. Was, dachte er, kommt als nächstes? Noch ein Anruf, noch ein Kind?
    Er hätte jetzt gern jemand zum Reden gehabt, am besten eine Katze. Er hatte mal eine gehabt. Er wußte, wie hilfreich Katzen in der Not sein konnten. Hunde dagegen sehen, wenn sie einen anschauen, immer aus, als würden sie gleich anfangen zu weinen; und wenn einem selbst zum Heulen war, konnte man das Gesicht in ihr Fell vergraben und sich so ausgiebig wie nötig seinem Selbstmitleid hingeben. Hunde waren nach Mitternacht absolut unbrauchbar! Sie sind eine Zumutung! Sie beobachtendich, sie haben dich immer im Blick. Sie betteln um

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