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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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damals, als es passierte, in keiner guten Verfassung gewesen. Er fühlte sich leer, verbraucht, von seiner Sucht verbrannt. Er konnte nicht mehr denken, also konnte er auch nicht mehr schreiben, die Ergebnisse waren entsprechend. Die ganze magere Ausbeute jener Jahre war das Bruchstück eines Romans, begonnen und aufgegeben. Der Beweis seines Versagens. Seine Suche nach visionärer Wahrnehmung war, wie sich Chuck eingestehen mußte, gescheitert. Und mehr noch: Er empfand regelrecht Widerwillen gegen das, was ihm, seit er denken konnte, das Wichtigste gewesen war: das bedächtige ruhige Ausharren vor einem Blatt Papier, der Versuch, dasKommando über das, was da entstand, zu übernehmen, der Wunsch, dem Leben im Prisma einer unauslöschlich festgehaltenen Einzelheit Dauer zu verleihen – eine Tätigkeit, in die er von Anfang an all seine Hoffnung gesetzt hatte. Mit was sollte er die von ihm erfundenen Personen beschenken? Ihm fehlte der Mut, sich zu einer schöpferischen Großtat aufzuraffen. Er hatte nicht einmal die Geduld, von diesem Mut zu träumen. Die ganzen letzten Jahre hindurch waren Menschen gestorben, die er kannte, einige von ihnen sehr gut, fast jede Woche einer. Und die nächsten Opfer, wenigstens die, die noch auf das Wunder ihrer Heilung hofften und wie aus Gewohnheit noch immer unternehmungslustig waren, drehten ihre Abschiedsrunden. Sie hatten nicht mehr das rote Tuch, ihr Erkennungszeichen, einstecken, sondern ihre Testamente. Bläulich abgemagerte, vor sich hin fiebernde Gestalten. Der Schweiß glänzte, nicht das Leder, das sie wie eine zweite Haut getragen hatten. Ihre Gesten, noch immer angelegt auf großen Stil, erstarben auf halber Höhe in Erschöpfung. Es hatte keine Bedeutung mehr, was ein Blick einmal jedem von ihnen an Vergnügen versprochen hatte. So viel Spaß – und so lange her . Das wäre erledigt, waren, bevor er starb, die letzten Worte von Michael, einem von Chucks Freunden, dem Geliebten von Dieter, der keine vier Monate nach ihm starb.
    Erledigt? Ja, erledigt! Das Fest war zu Ende. Es starben die Männer, ihre Liebhaber, die schöne Liebe. Eine ganze Generation war am Sterben. Chuck spürte, wie auch er dabei war, kaputtzugehen, was ihm – die bei weitem schmerzlichste seiner Erinnerungen – unweigerlich Gretas Sterben ins Gedächtnis zurückrief. Sie war zwanzig damals,und in etwa so lange lag sie jetzt schon unter der Erde.
     
    Die Pranke gehörte einem Löwen, und der Löwe zu den Überresten eines bescheidenen kleinen Zirkusunternehmens, das, wenig erfolgreich, in unserer Stadt gastiert hatte und nun wegen einer Anzeige von Bürgern und Verbänden von Tierschützern (und eines daraufhin gegen den Zirkusdirektor ergangenen behördlichen Beschlusses) festsaß.
    Es standen auf dem teilweise bereits wieder als Parkplatz genutzten Gelände noch ein paar Wohnwagen herum, ein Sattelschlepper mit den verschnürten Zeltplanen, zwei Traktoren und eben jener armselige alte Käfigwagen mit den drei Raubkatzen. Sie lagen träge da, schienen sich in ihre lebenslange Gefangenschaft ergeben zu haben und auf nichts zu warten als die nächste Fütterung.
    Nach zwei Jahren kannte ich Greta genug, um zu wissen, daß sie sich am liebsten zu den Tieren in den Käfig gelegt hätte.
    An den Käfigwagen heranzukommen war ein Kinderspiel. Zwar stand noch ein hüfthohes Gitter davor, aber links und rechts war der Zugang kein Problem. Auch die beiden jungen Männer, Zirkusleute, damit beschäftigt, den Motor eines der Traktoren wieder zum Laufen zu bringen, beachteten uns nicht. Sie pfiffen nur den Hund zurück, der uns ankläffte.
    Greta schaute die Tiere an, dann mich. Was meinst du? Ob die mich erkennen?
    Ich sah es an ihrem Blick. Es war wieder soweit. Sie phantasierte.
    Ich legte von hinten die Armeum sie, für alle Fälle. Es war gefährlich, nicht auf alles gefaßt zu sein. Trotzdem sagte ich: Kann gut sein!
    Ihre Anfälle hatten sich schon immer so angekündigt, auch als sie noch nicht so krank und unberechenbar war. Zuerst kam alles in ihr in überdrehter, zerdehnter Langsamkeit zum Stillstand, etwas wie die Ruhe vor dem Sturm, dessen Zentrum sich aber gleichzeitig bereitmachte, sich zu entladen. Etwas in ihr, ein Muskel, ein Wille verwandelte die Ruhe in Energie, in eine durch Konzentration entfesselte, gefährliche, vor allem für sie selbst gefährliche Energie, was mich hätte alarmieren sollen.
    Der Teufel hatte sich, mit ruhiger Hand, schon einmal zu Wort gemeldet, als sich Greta

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