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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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wird vor ihren Gräbern innehalten und den Kopf senken.
    Es ist das Lesen ja unbestritten ebenfalls eine Kunst, und keine geringere als die des Schreibens. Sich Zeit lassen! Zeit löschen! Den Körper darauf einstellen, zur Ruhe zu kommen. Immer wieder, er hatte es Chuck gegenüber oft genug erwähnt, unterbrach er das Lesen und schloß die Augen, weil ihn ein Satz, eine Zeile, eine ganze Seite wegen ihres Zaubers, ihrer magischen Einfachheit, ihrer Vollkommenheit in freudiges Erstaunen versetzte, ein Zustand, der ihn immer noch wie ein Kind glücklich machen konnte. Es machte ihn nicht im geringsten verlegen, dieses Glück zu gestehen. Wie war es möglich, fragte er sich, so gut schreiben zu können? Was waren die Mittel, daß es gelang? Er kannte die Antwort nicht, nicht die ganze Antwort; und die vielen kleinen Antworten, wie sie eben waren, ergaben nichts Ganzes. Aber es war in Ordnung und gut so. Wie aufregend ein Leben, dachte er dann, das in aller Stille solche Wunder vollbringt. Sie waren niedergeschrieben, sie waren gedruckt und gebunden worden, sie warteten und schwiegen. Manchmal stand er, ein einziges seliges Lächeln im Gesicht, mit einem Buch in der Hand auf, drehte kleine Runden quer durch ein Zimmer und setzte sich nicht eher wieder hin, bevor er nicht sicher war, sich die Sache für immer, für länger als immer ins Gedächtnis eingeprägt zu haben. Und ich war, sagte er, viel auf den Beinen, ich habe einige,nicht viele, aber einige Bücher geradezu im Stehen gelesen! Mir taten oft mehr die Beine als die Augen weh, und am Abend natürlich der Rücken. Und bei Herrn Nabokov, dessen Bücher ich regelrecht dirigierte, auch noch die Arme. Ich hatte manchmal richtig Muskelkater. Er war, versteht sich, ein langsamer, andächtig langsamer Leser, aber einer mit Kondition. Es gingen ganze Nächte drauf, bis er sich geschlagen gab. Da sang schon die erste Amsel.
    Es war dieses Bild, das sich Chuck eingeprägt und ihm den Mann sympathisch gemacht hatte. Der Mann war altmodisch, er hielt Distanz. Der Literaturbetrieb interessierte ihn nicht. Er zeigte sich nicht auf literarischen Abenden, sprach keine einführenden Worte, reiste nicht zu Tagungen, auch wenn diese an illustren Orten stattfanden, und Einladungen, in einer Jury zur Vergabe von Stipendien oder Literaturpreisen mitzutun, lehnte er sowieso ab – was ihm in Chucks Augen Autorität verlieh. Was er über diesen Beruf wußte und über die, die ihn ausübten, teilte er seinen Autoren mit, im Gespräch unter vier Augen oder am Telefon oder in ausführlichen, handschriftlich abgefaßten Dossiers. Er vergeudete seine Energie auch nicht mit einem Privatleben, das ihn von seiner Arbeit ablenkte. Keine Ahnung, ob es Frauen in seinem Leben gab. Einen Satz wie »Ich habe das Gefühl, daß …« wäre nie aus seinem Mund gekommen. Er schien im reinen mit sich. Er war, was er war, gern: ein Leser, einer der besten, die Chuck kannte, unbestechlich, aufrichtig, in seinem Urteil schonungslos.
    Man erzählte sich von ihm, daß er, noch bevor er morgens die Augen aufschlug, schon ein Buch in der Hand hatte. Was immer die Verbrechen des Fortschritts auchmit seinem Leben anstellen würden, mit der Zeit, die ihm noch blieb, sein Freund, soviel war sicher, würde widerstehen. Und wenn es irgendwann einer Heldentat gleichkam, ein Buch zu lesen, er würde der Reihe nach all jene Bücher, auch wenn er sie längst auswendig konnte, wiederlesen, weil sie, wie er sagte, von den Wundern erzählten, die nur Unwissende wie ich nicht anzweifelten. Er zitierte »Herrn Pessoa«, dem diese förmliche Anrede gefallen hätte. Denn wer bei seinem Tod einen schönen Vers hinterläßt, hat Himmel und Erde bereichert . Es war dieser Glaube, der ihn ganz handfest daran hinderte, jemals auf andere als seine Art seinen Lebensunterhalt verdienen zu wollen. Zwei Dinge waren es, an die er glaubte: die Poesie, die Mitleid war mit einer Welt, die sie nicht mehr zur Kenntnis nahm, und Bleistifte. Er kaufte jeden Tag einen. Vielleicht, weil es bald keine mehr geben würde, und auch keine dieser von rührend hilfsbereiten alten Ehepaaren betriebenen Schreibwarengeschäfte mehr, die sie noch auf Lager hatten. Und auch mit den Streichhölzern würde es eines Tages zu Ende sein. Wie mit den Dichtern auch, wie er in einem übertrieben trübseligen Tonfall hinzufügte, wenigstens mit den wenigen, die noch welche sind. Es war die Poesie das Licht der Flamme, es war alles, was man sich wünschen konnte. Es ist

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