Das Geschenk
– wenn es die war, die er hatte abschießen wollen! Oder gab es noch eine, noch ein letztes Exemplar? Die Stubenfliege, musca domestica , lebt sechzehn bis vierundzwanzig Tage, Weibchen länger als Männchen, kommt weder in Wüsten vor noch in polaren hochalpinen Landschaften. Was man in der Schule nicht alles lernt! Und so eine, Weibchen oder Männchen, lag tot im Eisschrank. Wie kam sie, die es nicht einmal durch eine Glasscheibe geschafft hatte, ohne fremde Hilfe dazu, in einem Eisschrank zu landen? Ein linker Haken, eine linke Gerade, sieht man so dann am Ende aus?
Er ging zum Wasserhahn, trank ihn leer und kam zurück. Also dann, sagte er und schulterte den Rucksack mit den Schulsachen. Der Pflicht, ein gegebenes Versprechen gehalten und dem Vater einen Besuch abgestattet zu haben, war Genüge getan.
Wann seh ich dich wieder?
Keine Ahnung.
Ja, ich weiß, dachte Chuck und versuchte den Stich, den es ihm versetzte, mit einem hilflosen Lächeln zu überspielen. Natürlich! Keine Ahnung, was sonst! Er fühlte sich, ob er wollte oder nicht, so wehrlos wie die Mädchen, denen er oft genug, nachdem er sie verführt hatte, die gleiche Abfuhr erteilt hatte, nicht weniger verärgert wie sein Sohn jetzt und mit ebensowenig Interesse an einer Antwort, die ihn zu etwas Konkretem verpflichtet hätte. Wie oft hatte er in Gedanken aufgestöhnt, weil es ihm lästig gewesen war, wenn sie genau das von ihm hatten wissen wollen und er sich – Schluß jetzt, verdammt noch mal! Wir sehen uns, wir sehen uns nicht! Was weiß ich! – ohne viel Federlesens abgewendet hatte.
Er wollte seinen Sohn zum Abschied umarmen, ja mehr noch, in den Arm nehmen, ihn drücken, an sein Herz drücken, wie man sagt, wie er es jedesmal, seinem wenn auch ein wenig unentschlossenen Widerstand zum Trotz, bei jedem Abschied (und auch bei jedem Wiedersehen mit ihm) tat, als könne dieser Moment ihr Schicksal beeinflussen – aber da war er schon weg.
Als Chuck allein war, spürte er den Schmerz wieder, der von seiner Zuneigung zu dem Kind herrührte. Er hatte es gewußt. Er hatte gewußt, warum ihm die Heiterkeit eines ewig kinderlosen Junggesellen als Glück gereicht hätte, daß er der Liebe eines Vaters zu seinem Kind nicht gewachsen sein würde, daß er dieser Liebe ausgeliefert sein und sie ihn, weil sie seine Kräfte überstieg, traurig machen würde, traurig wie nichts anderes auf der Welt.
Und dann ging das Telefon.
Einer aus seinem Verlag war dran, einer, der nicht nur die Verkaufszahlen seiner Bücher kannte; einer, der Chuck nicht, wie überhaupt keinen der von ihm betreuten Schriftsteller, danach beurteilte, wie hoch sie waren, wie profitabel für den Verlag. Vielleicht kamen sie deshalb so gut miteinander aus, waren sich sympathisch und schon fast so etwas wie Freunde geworden. Er verstand von dem, was Chuck im Verlag ablieferte, zumindest so viel, daß es sich lohnte, sich mit seiner Arbeit Mühe zu geben. Er verwechselte Bücher nicht mit dem Geschäft, das mit ihnen zu machen war. Vielleicht spielte, was einer schrieb, erst in zwanzig Jahren was ein oder in fünfzig, oder auch dann nicht. Zum Teufel mit allen Moden, mit einem Markt, der Bücher am liebsten als Stapelware anbot, und Schriftsteller hofierte, die gut für Schlagzeilen waren oder das Zeug zum Fernsehstar hatten.
Sie haben die sechs Seiten bekommen?
Hab ich.
Und?
In Ordnung. Keine Einwände.
Chuck hatte ihm was geschickt, ein Gedicht, Sizilianischer Sonntag 5 , sechs eng beschriebene Seiten. Ein Mann der Mafia, einer der Bosse des Syndikats, kann nicht mehr pissen, ohne zu sterben vor Schmerzen. Was folgte, war eine ungeheuerliche, gegen Gott gerichtete Anklage, seineAbrechnung mit ihm. Wahrscheinlich glaubte er, daß der Kerl irgendwie reagiert, wenn man ihm mal richtig die Meinung sagt, daß er sich zeigt, sein Gesicht wenigstens, aber er bleibt unsichtbar, was ihn gefährlich macht. Wie einen Mann bestechen, der sich versteckt? Mit den Schmerzen im Schwanz und dem Geld, das er ihm hinhält, steht er vor dem Altar, bis er völlig durchdreht – und wahnsinnig wird. Erzählt wird das Ganze von seiner Tochter, die ihren Vater schließlich erlöst. Sie erschießt ihn.
Ich habe es mir laut vorgelesen, und bin einverstanden. Es ist perfekt. Klar geschrieben, und doch poetisch. Ein Jammer, daß man daraus kein Buch machen kann.
Sechs Seiten, sagte Chuck, und drei Wochen Arbeit. Man ruiniert sich.
Ich nehme an, die ganze verdammte Schwierigkeit, es zu schreiben,
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