Das Geschenk
nach der Stelle. Siebenhundertvierunddreißig Seiten, was nicht einmal die Hälfte seiner Korrespondenz insgesamt darstellt. Unglaublich. Chuck stellte sich seinen Freund auf der Leiter seiner Bibliothek vor, seine schweißtreibenden Klettertouren wie Gymnastikstunden absolvierend, rauf, runter, rauf, runter.
Aha, ja, hier. Hier ist er, Brief an Doktor Georges Linossier. Er schreibt da: »Seit Jahren uriniere ich ausgesprochen spärlich« … und weiter: »Oft – und ungenügend –gehe ich aufs WC und immer uriniere ich mehrmals … Einmal ungefähr alle vierzehn Tage nehme ich während des Abendessens eine Abführpille, die mich in den folgenden vierundzwanzig Stunden sieben-, achtmal oder noch mehr aufs WC gehen läßt.«
Kommt mir bekannt vor, dachte Chuck. Man steht mit offener Hose da, es tropft, einmal, zweimal, wenn man Glück hat. Daß es ein Jahrhundert vor Chuck selbst einen Unsterblichen erwischt hatte, für welchen Sterblichen wäre das kein Trost. Man vergißt es ja gern, daß so einer nicht nur schrieb, sondern irgendwann eben auch pinkeln mußte – da konnte er mit noch so boshafter Genauigkeit über die Abendtoilette von Mademoiselle de S. oder die Vulgarität der Seidenbezüge auf den Möbeln der Madame G. plaudern –, daß er mit kalten Händen und Füßen im Bett lag und gleichzeitig fror und schwitzte (und entsprechend roch). Es gab das alles. Es gab ihn wirklich! Es gab ihn als Person, als Lebewesen, eines mit krankhafter Unruhe im Magen- und Darmbereich, mit Ausdünstungen und Blähungen. Das Genie, das Abführmittel schluckte.
Es war irgendwie absurd gewesen, hell, ungemütlich und etwas absurd. Chuck war, noch bevor er sie überhaupt zu Gesicht bekam, von einer pummeligen jungen Arztgehilfin mit einem Becher zur Toilette geschickt und um eine Portion Urin gebeten worden – und mit dem in der Hand hatte sie ihn begrüßt und sich, man sah es ihr an, über den Anblick, den er bot, amüsiert, vermutlich auch über die Verwirrung, die sie in ihm auslöste. Ihr Sex-Appeal war so unübersehbar wie der Dotter auf dem Spiegelei.Na dann, sagte sie, nahm ihm den Becher ab und reichte ihn weiter. Tut mir leid, sagte Chuck – und meinte damit die geringe Menge, die er abgeliefert hatte. Ich mach das immer so, daß ich vor einem Arztbesuch noch einmal … na ja, das nächste Mal denk ich dran.
Gut, tun Sie das, meinte sie trocken und bat Chuck, ihr ins Sprechzimmer zu folgen.
Wenn sie wenigstens häßlich gewesen wäre! Oder einfach nur eine freundliche, humorvolle, irgendwie mütterlich wirkende Frau. Aber sie war eine Augenweide, ein, wie Onkel Theo gesagt hätte, wirklich knöpfesprengendes Weibsbild, eine wuchtige, aber auffallend attraktive Person, eine, die Männer zum Vibrieren bringen konnte, ein ganzes Männergefängnis, und deshalb für einen wie Chuck gefährlich, und mehr als das, weit mehr. Er sah, was er sah – und entwickelte insgeheim bereits Besitzansprüche. Es war nicht nötig, von Frauen mehr wissen zu wollen, als was die Augen wissen.
Chuck erinnerte sich, wie er einmal dem Atelier einer einstmals gefeierten, seit langem aber von der Kunstwelt vergessenen Bildhauerin einen Besuch abgestattet hatte, einer gewissen Madame Rousselle, einer älteren weißhaarigen Dame, die, als er eintrat, einem jungen Mann, offenbar ihrem Assistenten, ihre bis zum Filter gerauchte Zigarette aushändigte und ihm auftrug, für sie und ihren Gast Tee aufzubrühen. Der Raum war so groß, wie die Person klein war – und sie sprach zu ihm von Proportionen, den Größenverhältnissen eines Körpers, dem Verhältnis der Körperteile zueinander (»eine trügerische Angelegenheit«) und nahm dann ein Tuch von einer bronzenen Figur, einem weiblichem Torso, betrachteteihn und legte ihre zierliche, aber kräftige Hand auf das, was ein Schenkel sein mochte. Sie forderte Chuck auf, es ihr gleichzutun. Man muß es anfassen, erklärte sie, Fleisch muß zu Fleisch. Ihre Hand glitt über die Oberfläche der Figur. Los, sagte sie streng, nur keine Hemmungen. Das ist gutes, rundes, gesundes Fleisch, genau die richtige Portion davon und in den richtigen Proportionen. Sie machen nur, was Sie berühren, lebendig.
Sie bemerkte seinen Blick. Was schauen Sie denn so?
Genau das sagte jetzt eine andere Stimme zu ihm. Und fügte hinzu: Ist Ihnen nicht gut?
Wie gern hätte er die Ärztin jetzt auf die von Madame Rousselle empfohlene Weise berührt und lebendig werden lassen. Aber das war sie ja, sie war ja
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