Das Geschenk
lebendig. Und im Gegensatz zu dem Kunstwerk hatte sie die richtigen Sachen an den richtigen Stellen; und so stand sie auch da, nicht wie jemand, der nichts zu bieten hat. So sah keine aus, die ein unglückliches Leben zum Gegner und einen unpassenden Ehemann zum Feind hatte. Und viel konnte sie, auch das konnte er sehen, unter dem praktisch bis zum Brustbein aufgeknöpften weißen Kittel nicht anhaben. Er merkte gerade noch rechtzeitig, daß er – wie lange schon? – aufgehört hatte zu atmen.
Chuck empfand es als unverdiente und ungerechte Bestrafung, sich ausgerechnet jetzt darauf konzentrieren zu müssen, nur als Patient mit Verdacht auf eine Reizblase funktionieren zu dürfen. Er empfand es als Zumutung, mit einer Frau, deren Schönheit zu preisen die Aufgabe der Poesie und deren Weiblichkeit zu huldigen einmal das Privileg der Dichter gewesen war, über etwas so Prosaisches wie seine Blasenschwäche reden zu müssen, Fragenbeantworten zu müssen nach seinem Harndrang, der Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit desselben, seiner Stärke oder, besser gesagt, der bescheiden tröpfelnden Dürftigkeit seines Harnstrahls, und dann auf eine Handbewegung reagieren zu müssen, die ihm nahelegte, sich seiner Hose und natürlich, ja bitte, gleich auch noch seiner Unterhose zu entledigen, während seine Gedanken, diese in diesem Moment zu einem glühenden Klumpen zusammengeschmolzene Materie seiner Gedanken, mit dem Versuch beschäftigt waren, die verborgenen Strukturen einer Verführung verstehen zu wollen – beschäftigt mit der Frage, auf was die Sache, falls er sich nicht schnellstens wieder würde beruhigen und entspannen können, hinauslaufen könnte und ob sie nicht vielleicht längst auch mit dem Gedanken spielte, zur Sicherheit jedenfalls erst einmal die Tür abzuschließen, wenigstens das. Wie viel Einverständnis konnte er im Ernstfall voraussetzen? Wie ihn herbeiführen?
Sie fixierte ihn mit ihren großen, irgendwie silbrig schimmernden Augen – und schien zu überlegen, ob dem Mann, der ganz offensichtlich nicht nur Probleme mit seiner Blase, sondern auch mit der Dressur seiner libidinösen Energien hatte, nicht vielleicht ein Psychiater und in Folge eine Frau, die ihn unter ihre Fittiche nahm, weiterhelfen könnte, eine Frau, die ihm im Bett an die Kehle ging. Andererseits, richtig unsympathisch, das mußte sie zugeben, waren ihr Draufgänger nicht. Sie hatte schon immer was übrig gehabt für Männer, die sich auf Komplimente verstanden. Männer, die Witz hatten, Einfälle, und einen nicht einfach aus trüben Augen indiskret anglotzten, und das lange genug, daß man zu einerReaktion, die man an sich vermeiden wollte, gezwungen war.
Ein Versuch, fand Chuck, war die Sache allemal wert. Er war es sich selbst wert, bevor die Hüllen fielen, und höchstwahrscheinlich nicht zu seinen Gunsten.
Das war wunderbar. Machen Sie das doch bitte noch mal, sagte er, bitte.
Was machen? fragte sie.
Das, sagte Chuck. Das mit den Augen.
Sie verstand nicht. Sie konnte auch nicht sagen, was das für ein Gesicht war, in das sie schaute, und noch weniger, was der, der sie anschaute, in ihrem sah.
Er hatte den Tonfall gefunden, Chuck spürte es. Und auch, daß er endlich wieder Boden unter die Füße bekam. Sah sie nicht aus, als suche sie sein Gesicht nach Anzeichen seiner Fähigkeit zur Diskretion ab? Sah es nicht ganz danach aus, als stünde sie kurz davor, rot zu werden? War es nicht längst eine Frage der nächsten Sekunde, daß sie mit einem leise gehauchten Seufzer zur Tür schritt, den Schlüssel umdrehte, zum Tisch zurückging, zum Hörer griff und die Sprechstundenhilfe anwies, niemanden durchzustellen?
Nein, Chuck, nein, tut mir leid! Bleiben wir bei der Wahrheit. Sie wurde nicht rot, nicht annähernd, sondern nur langsam ungeduldig angesichts eines Patienten, der sich verausgabte, ihr imponieren zu wollen. Sie nahm sich vor, sich bei Gelegenheit bei Dr. Jansen, der es schließlich war, der ihn geschickt hatte, nach dem Kerl zu erkundigen. Der werte Herr Kollege war ja auch so einer, der gern was anstellte! Warum also den Humor verlieren! Außerdem war sie neugierig.
Was meinen Sie, was mit den Augen?
Sie tanzen lassen, sagte Chuck. Wenn das eine Frau kann, Kompliment! Mit den Augen tanzen können. Nein? Ich meine, das ist doch was! Das ist, wie wenn man die Welt anschaut, wenn die Sonne scheint. Man sitzt in der Sonne, nichts tut einem weh, und die Sonne scheint. Man schließt die Augen und die Sonne
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