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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kruppa
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Trauer?«
    »So ist es. Ihre Seele lebte schon vor ihrer Geburt und verband sich mit ihrem Körper, von dem sie sich im Tod wieder löste. Wenn ihre Seele sich danach sehnt, sich irgendwann wieder mit einem Körper zu verbinden, wird eine neue Geburt stattfinden und ein neuer Tod. Dies ist der natürliche Lauf der Dinge und weder ein Grund zur Traurigkeit noch zur Angst. Dennoch fürchten fast alle Menschen den Tod, schleppen tagaus, tagein die Last ihrer Furcht mit sich und vermindern damit ihre
Freude am Leben. Sie gleichen Wanderern, die ihr Haus am Morgen verlassen und während ihrer ganzen Wanderung Angst haben, am Abend wieder nach Hause zurückzukehren.«
    »Dann ist die Seele eines Menschen unabhängig von dem Körper, mit dem sie sich verbindet«, folgerte Min Teng.
    »So unabhängig wie mein Körper von dem Haus ist, das ich heute morgen aufgegeben habe.«
    Nachdem Min Teng eine Weile über Tschuang Tses Auskünfte nachgedacht hatte, fragte er: »Warum verbindet sich die Seele überhaupt mit einem Körper? Warum verweilt sie nicht in ihrer Unabhängigkeit?«
    »Ich weiß es nicht. Ich vermute, daß es sie reizt, eine solche Verbindung einzugehen, und dies öfter als nur einmal. Und ich vermute, daß dieser Reiz, wie alle Reize, mit wachsender seelischer Reife schließlich erlischt. Eine zur Weisheit gelangte Seele wird nicht mehr nach einer erneuten Verbindung mit einem Körper streben und es vorziehen, in ewiger Unabhängigkeit zu verweilen.«
    Während Min Teng darüber nachdachte, welche Gründe die Seele zu einer Verbindung mit einem Körper bewegen könnten, kehrte Kun Liang mit betrübter Miene ins Haus zurück und setzte sich wieder zu seinen Gästen an den Tisch.
    »Yu Lin wird mir sehr fehlen«, gestand er. »Zusätzlich zu ihren schönen menschlichen Eigenschaften hat sie noch eine Gabe des Himmels, die sie allerdings als Bürde empfindet. Da euer Weg sich morgen früh mit ihrem
vereint, solltet ihr davon wissen. Ich bin, außer ihrer Freundin Wan Jing, der einzige Mensch, dem sie sich anvertraut hat. Beim Abschied habe ich Yu Lin gefragt, ob ich euch davon erzählen darf. Sie hat mir erlaubt, euch darüber aufzuklären.«
    »Kann sie fliegen wie ein Geist?« fragte Min Teng – und tadelte sich sogleich für den Spott in seinen Worten, die ein mißratener Versuch gewesen waren, seiner Aufregung Herr zu werden, die ihn bei Kun Liangs Worten ganz unvermittelt bestürmt hatte.
    »Sie kann nicht fliegen wie ein Geist«, antwortete Kun Liang, »aber ihr Geist kann fliegen: über die hohen Mauern der Zeit, in denen die menschliche Wahrnehmung gefangen ist. Manchmal, wenn sie schläft, hat sie Träume, die aber keine Träume sind, sondern Reisen ihrer Seele, ihres Geistes in zukünftige Zeiten. Gewöhnliche Träume rieseln wie feiner Sand aus unserer Erinnerung, wenn wir versuchen, sie uns zu vergegenwärtigen. Solche gewöhnlichen Träume hat Yu Lin meistens, aber manchmal hat sie nachts einen Traum, an den sie sich in allen Einzelheiten erinnern kann, wenn sie erwacht. In einem solchen Traum sieht und erlebt sie etwas, das in der Zukunft liegt.«
    »Hat sie diese Gabe schon immer gehabt?« fragte Tschuang Tse.
    Kun Liang schüttelte den Kopf. »Sie hat sie seit etwa drei Jahren. Am Anfang hatte sie ihre nächtlichen hellseherischen Erlebnisse als gewöhnliche Träume abgetan, die aus unerklärlichen Gründen nicht dem schnellen
Vergessen anheimfielen. Sie waren ihr unheimlich, deshalb schob Yu Lin sie immer wieder aus dem Blickfeld ihres Geistes. Doch vor etwa zwei Jahren hatte sie einen Wahrtraum, der sie zwang, ihre Gabe vor sich selbst anzuerkennen. Sie sah in diesem Traum zwei Männer mittleren Alters, die sie nicht kannte. Diese Männer mißbrauchten ein Mädchen in einem Wald und erwürgten es dann. Es war so, als hätte Yu Lin unsichtbar neben den Mördern und ihrem Opfer gestanden, ohne in das furchtbare Geschehen eingreifen zu können. Schlimm war auch, daß sie das Mädchen kannte. Es war die vierzehnjährige Tochter eines Fischers aus He Jing, ein fröhliches, unternehmungslustiges Mädchen, dessen Weg sie schon einige Male gekreuzt hatte. Einige Tage später fand man die geschändete Leiche des Fischermädchens in einem kleinen Wald östlich der Stadt. Als Yu Lin davon erfuhr, fiel sie in Ohnmacht, und man brachte sie zu mir. Sie ahnte es damals zwar schon, wußte aber noch nicht, daß ihre Seele in die Zukunft blicken kann. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, vertraute sie sich mir

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