Das Geschenk der Sterne
verloren. Ich will versuchen, es von dem Schrecken zu heilen, der von seiner Seele Besitz ergriffen hat. Dabei zähle ich auf die Hilfe meines Freundes Tan Wong und seiner lieben Frau.«
Yu Lins Lächeln wich bei Kun Liangs Worten aus ihrem
Gesicht, das nun Bestürzung und Mitleid für das Mädchen widerspiegelte.
»Sein zartes Alter und liebliches Gesicht konnten es nicht vor diesem schweren Schicksalsschlag schützen«, sagte Kun Liang und seufzte. »Doch nun verrate mir, Yu Lin: Was führt dich so spät noch zu mir?«
Da Yu Lin zögerte, ihm zu antworten, ermutigte er sie: »Du kannst offen sprechen! Meine Gäste genießen mein Vertrauen und wissen um die Lage, in der du dich befindest.«
»Ich habe mich entschlossen, schon morgen früh zu fliehen«, sagte sie, »auch wenn ich noch immer nicht weiß, wohin ich reiten soll. Aber sobald ich mich erst einmal auf den Weg gemacht habe, wird er mich schon zu meinem Ziel führen.«
»Schon morgen?«
Yu Lin nickte entschlossen.
»In meinem Haus findet eine Zusammenkunft von Flüchtlingen statt«, stellte Kun Liang fest.
»Ihr befindet euch auf der Flucht?« wandte sich Yu Lin überrascht an Tschuang Tse.
»Ja, wir flüchten vor Prinz Yan nach Wei. Er sieht in mir eine Bedrohung seiner Macht und will mich töten lassen.«
»Flüchtest du auch vor Yan?« fragte sie Min Teng.
»Ja. Er trachtet mir nach dem Leben, weil ich seinen Befehl nicht ausgeführt habe.«
»Welchen Befehl?«
»Tschuang Tse zu töten.«
Yu Lin sah ihn erst ungläubig, dann nachdenklich und dabei so eindringlich an, daß Min Teng ihrem Blick nicht standhalten konnte und den Kopf senkte.
»Warum hast du den Befehl nicht ausgeführt?«
Min Teng hob den Kopf wieder und stellte sich Yu Lins prüfendem Blick. »Weil Tschuang Tse mir bewußt gemacht hat, daß ich kein Mörder bin!«
»Hast du denn noch nie einen Menschen getötet?«
»Glücklicherweise hat das Schicksal mich davor bewahrt.«
»Wird es dir nicht schwerfallen, deine Heimatstadt und deine Mutter aufzugeben?« wandte sich Tschuang Tse an die junge Frau.
»Meine Heimatstadt wird sich in wenigen Tagen in einen Kerker verwandeln, wenn ich sie nicht verlasse. Meine Mutter habe ich bereits aufgegeben, denn sie hat sich mit dem Scheusal Hong Wang aus selbstsüchtigen Gründen gegen mich verbündet. Ich würde mit leichtem Herzen flüchten, wenn ich mich nicht von Kun Liang verabschieden müßte, der wie ein Vater meiner Seele ist. Auch meine Freundin Wan Jing wird mir fehlen.«
»Fürchtest du nicht, daß Hong Wangs Handlanger dich verfolgen und zurückbringen werden?« fragte Tschuang Tse.
»Ich habe meiner Mutter heute gesagt, daß ich morgen nach Sonnenaufgang ausreiten will, um Heilpflanzen für Kun Liang zu suchen, und am späten Nachmittag zurückkehren werde. Da ich dies jede Woche einmal tue, hat sie keinen Verdacht geschöpft. Sie wird sich
erst bei Sonnenuntergang fragen, warum ich noch nicht zurückgekehrt bin, und zu Hong Wang laufen, um ihm mein Ausbleiben zu klagen. Seine Männer werden am Morgen darauf mit der Suche nach mir beginnen. Dann habe ich schon einen großen Vorsprung. Und sie wissen nicht, in welche Richtung ich reite. Ich weiß es ja selbst noch nicht. Mehr als die Verfolgung durch Hong Wangs Männer fürchte ich die Gefahren der Reise.«
»Warum reitet ihr nicht zusammen nach Sung?« wandte sich Kun Liang an Tschuang Tse. »Ihr würdet Yu Lin Schutz bieten. Sie könnte sich dauerhaft vor Hong Wang in Sicherheit bringen, denn sein Einfluß endet an der Grenze zu Wei. Und ich müßte mir keine Sorgen um sie machen, weil ich sie in eurer Obhut wüßte. Was haltet ihr davon?«
Obwohl Yu Lin ihre Freude über Kun Liangs Worte nicht verbergen konnte, sagte sie: »Ich würde Tschuang Tse und Min Teng bestimmt zur Last fallen.«
»Das wirst du sicherlich nicht!« erwiderte Kun Liang.
»Kun Liang hat einen guten Vorschlag gemacht, und wir sollten ihn annehmen«, entschied Tschuang Tse.
Min Teng nickte beipflichtend, der Heilkundige lächelte zufrieden und Yu Lin wirkte sprachlos vor Erleichterung.
»Ihr könntet euch morgen früh auf dem Hügel der sieben Eschen treffen«, schlug Kun Liang vor. »Er liegt unweit der Stadt auf dem Hauptweg nach Norden. Wenn ihr zügig reitet, werdet ihr am Abend Mang Wu erreichen, die letzte Stadt vor der Grenze nach Wei.
Dort führt Mo Tschen, der Bruder meiner verstorbenen Frau, ein Gasthaus mit dem Namen ›Goldener Drache‹, das am südlichen Ufer des Sees liegt. Ich
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