Das Geschenk der Sterne
werde ihm einen Brief schreiben, den ihr ihm übergebt. Bei meinem Schwager könnt ihr zu Abend essen und die Nacht in Sicherheit verbringen. Von Mang Wu aus ist es nur noch ein weiterer Tagesritt bis zur Landesgrenze. Mo Tschen kennt sich in dieser Gegend gut aus und wird euch den sichersten Weg beschreiben. Auch kann er euch raten, an welcher Stelle ihr die Grenze überqueren solltet, um die Gefahr einer Entdeckung so gering wie möglich zu halten. Die Reiche Wei und Sung haben zwar vor einem halben Jahr einen Friedensvertrag geschlossen, aber das wird der Wachsamkeit der Soldaten keinen Abbruch tun. Ihr müßt Vorsicht walten lassen! Möge das Schicksal euch wohlgesinnt sein!«
Yu Lin erhob sich von ihrem Sitzkissen. »Ich danke dir für deine Hilfe, Kun Liang! Und ich danke euch, Tschuang Tse und Min Teng, daß ich mich euch anschließen darf! Leider muß ich nun gehen, um nicht zu spät zu meinem letzten Abendessen mit meiner Mutter zu kommen.«
Auch Kun Liang stand auf und sagte: »Ich werde dich zum Gartentor begleiten.«
Yu Lin verbeugte sich vor Tschuang Tse und Min Teng und folgte Kun Liang ins Freie.
EINE GABE DES HIMMELS
Durch die offene Tür folgte Tschuang Tses Blick seinem Freund und der jungen Frau. »Wie schwer es ihm fällt, sich von ihr zu verabschieden! Wie traurig es ihn macht, auch wenn er versucht, es nicht zu zeigen!«
»Sein Gesicht kann seine Traurigkeit verbergen, doch sein Gang und seine Körperhaltung verraten seine Gefühle«, ergänzte Min Teng. »Hat Kun Liang keine Familie?«
»Er verlor seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes. Trotz all seiner Heilkünste konnte er ihr Leben und das des Kindes nicht retten. Seitdem hat er keine Frau mehr lieben können und widmet seine ganze Kraft den Kranken.«
Min Tengs Gesicht offenbarte Mitgefühl. »Warum ist das Schicksal oft so hart zu guten Menschen?« Sein Blick
fiel auf das schlafende Mädchen. »Warum hat es diesem unschuldigen Kind die Eltern geraubt? Weshalb kennt das Schicksal keine Gerechtigkeit, kein Erbarmen?«
»Gute und Böse werden gleichermaßen vom Schicksal geschlagen«, antwortete Tschuang Tse. »Liebreiz und Sanftmut sind Eigenschaften, die sich jeder Mann von seiner Frau wünscht; doch so manche liebreizende und sanftmütige Frau gerät an einen Mann, der sie demütigt und schlägt und ihr die Freude am Leben raubt. Pflichttreue ist eine Eigenschaft, die sich jeder Herr von seinem Diener wünscht; doch ein pflichttreuer Diener findet nicht immer Glauben, weshalb schon mancher den Tod in ungerechtfertigter Verbannung erleiden mußte. Unschuld und Folgsamkeit sind Eigenschaften, die sich alle Eltern von ihren Kindern wünschen; aber ein Kind, das unschuldig seinen Eltern dient, wird nicht immer von ihnen geliebt, weshalb schon so manches Kind tiefen Kummer erdulden mußte.«
Tschuang Tse trank einen Schluck Tee und sagte: »Auch mich hat das Schicksal mit einem grausamen Schlag getroffen. Als meine Frau vor vielen Jahren starb, überwältigte mich ein schier unerträglicher Schmerz. Doch als ich mich schließlich besann, woher meine Frau gekommen war, erkannte ich, daß ihr Ursprung jenseits der Geburt lag, jenseits der Leiblichkeit und jenseits der Wirkungskraft: im Unfaßbaren. Zuerst vermischte sich etwas im Unfaßbaren, das sich durch seine Vermischung wandelte und durch seine Wandlung Wirkungskraft gewann. Die Wirkungskraft veränderte sich wiederum und
bekam Leiblichkeit. Die Leiblichkeit wandelte sich ihrerseits um und führte zur Geburt meiner Frau. Schließlich trat abermals eine Verwandlung ein, die zu ihrem Tod führte. Diese Vorgänge folgten einander wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, der Kreislauf der vier Jahreszeiten. Als mir dies bewußt wurde, versiegte mein Tränenfluß. An meinem Schmerz und meiner Trauer festzuhalten, hätte bedeutet, das Schicksal nicht zu verstehen. Wenn jemand müde ist und sich hingelegt hat, sollten wir ihn nicht mehr ansprechen. Meine Frau hatte sich für eine Weile niedergelegt, um im Unfaßbaren zu schlafen, aus dem sie einst erwacht war und eines Tages wieder erwachen wird. Ihre Ruhe mit dem Lärm meiner Klagen zu stören, hätte nur gezeigt, daß ich das höchste Gesetz der Natur nicht verstanden habe.«
Min Teng war sich nicht sicher, ob er Tschuang Tse richtig verstanden hatte, und deshalb fragte er ihn: »Du hast also erkannt, daß es deine Frau schon vor ihrer Geburt gegeben hatte und auch nach ihrem Tod geben wird, und deshalb verging deine
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