Das Geschenk der Sterne
jeder
Hinsicht eiliger als in früheren Zeiten. Sie lassen den Dingen nicht mehr ihren natürlichen Lauf, sondern versuchen, sie zu beeinflussen, zu beschleunigen, zu erzwingen. Und bei dem Streben nach ihrem Vorteil schrecken sie nicht vor Mitteln zurück, die anderen Menschen Schaden zufügen.«
»Hätten sie Weisheit«, sagte Tschuang Tse, »würden sie den Entwicklungen ihre Zeit lassen, das rechte Maß halten und sich in Gelassenheit üben. Bei Ringkämpfern kann man beobachten, daß sie anfangs ehrlich miteinander kämpfen, aber sobald sie in Aufregung geraten, kommt es zu hinterlistigen Angriffen. Bei Zechgelagen geht es anfangs auch ganz manierlich zu, aber früher oder später kommt es zu häßlichen Geschehnissen. Wenn die Menschen in Aufregung geraten, wird aus Vergnügen leicht Verdruß. So ist es bei vielen Dingen: Am Anfang ist man aufrichtig und gutwillig, aber schließlich wird man meistens gemein und niederträchtig. Kleine Ursachen zeitigen große Wirkungen. Worte fallen, dem Wind gleich, der die Wellen schafft, und was dabei herauskommt, ist ein verhängnisvoller Verlust des inneren Gleichgewichts. Wind und Wellen sind leicht zu erregen, Verlust des inneren Gleichgewichts bringt leicht Gefahr. In der Erregung, im Ärger neigt man zu unbegründeten Behauptungen, zu Spitzfindigkeiten und verletzenden Worten, man verliert die Selbstbeherrschung, läßt sich von der Wut verführen und erzeugt so auch bei anderen Menschen Wut. So verliert man die klare Erkenntnis der Lage, ohne daß man es wollte, und viel Schaden wird angerichtet,
der zu vermeiden gewesen wäre, wenn man das Maß gehalten und Gelassenheit bewahrt hätte.«
Kun Liang nickte zustimmend. »Manchmal mache ich mir Sorgen um mein inneres Gleichgewicht«, gestand er. »Die Menschen sind nicht nur unruhiger und unzufriedener geworden, sie werden auch öfter krank, was wohl zwei Seiten derselben Sache sind. Nach einem arbeitsreichen Tag fühle ich mich ein wenig wie ein Fisch, der im Sand zappelt. Aber glücklicherweise kann ich mich immer noch daran erinnern, wo das Wasser ist, und wieder dorthin zurückzappeln.«
»Darin unterscheidest du dich von den Menschen der Masse, und deshalb wirst du ihr Schicksal nicht teilen«, sagte Tschuang Tse. »Wird Holz an Holz gerieben, entsteht Feuer; steht Metall unter der Einwirkung des Feuers, wird es flüssig; wirken Trübes und Lichtes ungeordnet durcheinander, kommen Himmel und Erde in Aufruhr. Auf diese Weise entsteht das Krachen des Donners, und inmitten von Wasserströmen zuckt gleißendes Feuer auf, das die Bäume verzehrt. So ist es auch bei den gewöhnlichen Menschen. Sie stehen voller Sorgen zwischen zwei Abgründen, ohne einen Ausweg zu sehen, sie zappeln sich müde, ohne etwas Wesentliches zustande zu bringen, und ihr Herz schwankt zwischen Himmel und Erde, zwischen Trost und Trauer, immer von Schwierigkeiten verdunkelt und beschwert. Gewinn und Schaden reiben sich in ihnen aneinander und entfachen ein großes Feuer, das ihren inneren Frieden verzehrt. Das stille Mondlicht, das ihnen den Weg aus ihrer
Verwirrung weisen könnte, vermag nicht gegen den Flackerschein des wilden Feuers in ihnen anzukommen. Schließlich brechen sie erschöpft zusammen, und ihr Leben endet wie ein Lied mit einer verworrenen Melodie.«
Der Heilkundige nickte mit trauriger Miene.
»Bitte gib gut auf Yu Lin acht!« sagte er nach einer Weile gemeinsamen Schweigens.
»Ich habe den Eindruck, daß sie gut auf sich selbst achtgeben kann.«
»Das kann sie sicherlich, doch es beruhigt mich, sie in deiner Obhut zu wissen. Der Abschied von ihr ist mir trotzdem sehr schwergefallen«, gestand Kun Liang, wobei das leichte Zittern seiner Stimme seine Traurigkeit verriet. »Sie wird mir fehlen. Sie fehlt mir schon jetzt.«
Tschuang Tses Blick fiel auf das schlafende Mädchen und richtete sich dann auf seinen Freund. »Ist es nicht seltsam, Kun Liang, daß ich dir dieses Mädchen ausgerechnet an dem Abend brachte, an dem Yu Lin, die für dich wie eine Tochter ist, sich für immer von dir verabschieden mußte? Habe ich dir heute vielleicht ein Mädchen gebracht, das für dich wie eine neue Tochter sein wird?«
Nachdem die beiden Männer sich eine Weile schweigend in die Augen gesehen hatten, sagte Kun Liang: »So grausam das Schicksal auch sein kann, manchmal ist es auch voller Güte und Weisheit. Du hast mir heute ein Geschenk gemacht, für das ich dir nicht genug danken kann!«
Als hätte das Mädchen gespürt, daß die
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