Das Geschenk der Sterne
an.«
Kun Liang atmete tief durch, bevor er weitersprach: »Sie weiß nie genau, wie weit sie in die Zukunft reist. Sie sieht dort Menschen, die ihr unbekannt sind, an den seltsamsten Orten. Meistens sind es befremdende, manchmal auch schlimme Ereignisse, deren unsichtbare Zeugin sie wird. Eine ihrer letzten Seelenreisen hat sie anscheinend in eine unvorstellbar ferne Zukunft geführt, wo sie Dinge sah, die völlig unerklärlich sind und
sie noch tagelang verwirrt und bedrückt haben. Sie sah häßliche viereckige Bauwerke, so hoch wie Berge! Sie sah wütend brummende Maschinen mit Rädern, die sich von selbst bewegten! Sie sah sogar Maschinen, die am Himmel flogen, laut wie der Donner! Jeder gewöhnliche Mensch würde sie für verrückt halten, wenn sie ihm davon erzählte. Einmal sagte sie mir, daß sie am liebsten nie wieder einen Wahrtraum haben würde, aber ich fürchte, daß ihr Wille nichts gegen ihre Gabe ausrichten kann.«
»Ich werde die Pferde zum Fluß führen, damit sie saufen können«, entschied Min Teng unvermittelt und stand auf.
Es schien ihm der richtige Augenblick gekommen zu sein, die beiden Freunde eine Weile allein zu lassen. Außerdem toste die Erregung, die ihn bei Kun Liangs ersten Worten über Yu Lins Gabe ergriffen hatte, noch immer sturmgleich in seinem Gemüt – ein Unwetter, das sich unter dem freien Himmel beruhigen würde, hoffte Min Teng.
Min Teng konnte sich die Unruhe nicht erklären, die so unvermittelt in seiner Gefühlswelt aufgekommen war. Wahrscheinlich war sie ein Nachbeben des gewaltigen Erdrutsches, den Tschuang Tse am heutigen Mittag in ihm ausgelöst hatte. Ja, sie war wohl eine Nachwirkung seiner stürmischen Neugeburt. Yu Lins Gabe war ihm zwar ein wenig unheimlich, konnte aber nicht der Grund seiner heftigen Erregung sein, sagte er sich, als er die beiden Pferde zum Flußufer führte.
Die Gewißheit, daß Yu Lin ab dem morgigen Tag ihre Fluchtbegleiterin sein würde, hatte widersprüchliche Gefühle in ihm hervorgerufen. Vielleicht lag es an seiner Unerfahrenheit im Umgang mit Frauen, vielleicht waren auch die Schönheit und Anmut Yu Lins die Gründe dafür, daß er sich in ihrer Nähe unsicher gefühlt hatte. Noch immer spürte er die geheimnisvolle Kraft ihres Blickes, der durch die Fenster seiner Augen ins Haus seiner Seele eingedrungen war, mit beängstigender Mühelosigkeit. Andererseits hatte Yu Lin Gefühle der Heiterkeit und Freude in ihm erweckt, die von Zuneigung und einer unbestimmten Sehnsucht umrankt wurden. Nicht nur wegen ihrer körperlichen Schönheit fühlte er sich zu ihr hingezogen; sie besaß auch eine innere Anziehungskraft, deren Bann er sich nicht entziehen konnte und auch nicht entziehen wollte. Und doch riet ihm eine innere Stimme, daß er dieser magischen Kraft Widerstand leisten sollte, ohne indes ihren Rat zu begründen. Die junge Frau mit den großen, seelenvollen Augen und der melodischen, sanften Stimme war ihm ein Rätsel, und Min Teng fragte sich, ob seine Fähigkeiten ausreichten, es zu lösen.
Wie ihn selbst zwangen Yu Lin die Umstände dazu, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Doch im Gegensatz zu ihm konnte sie ihr vertrautes Ich mit auf diese Reise nehmen, während er es für immer verloren hatte, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, wer er nun eigentlich war. Doch schien es ihm allemal besser, nicht
zu wissen, wer er war, als ein falsches Bild von sich zu haben.
Tschuang Tse hatte dieses falsche Bild zerstört, als Min Teng nur noch einen Schritt vor dem Abgrund seines seelischen Verderbens stand. Dafür würde er ihm immer dankbar sein.
MIT SORGEN IST MAN RETTUNGSLOS VERLOREN
»Wie ist es dir in der langen Zeit seit unserer letzten Begegnung ergangen?« fragte Kun Liang, nachdem die beiden Freunde eine Weile schweigend beisammengesessen hatten.
»Ja, es war eine lange Zeit. Fast drei Jahre! Dabei ist es kein so weiter Weg von meinem Haus zu deinem. Ich bin nicht mehr so reisefreudig wie in früheren Jahren. Es hat mir genügt, von Zeit zu Zeit eine kleine Wanderung zu unternehmen und mich ansonsten in der beschaulichen Welt meines Dorfes umzusehen. Daran hätte sich wohl so bald nichts geändert, wenn Min Teng nicht heute mittag auf mich gewartet hätte.«
»Vielleicht hast du in gewisser Weise auch auf ihn gewartet.«
Tschuang Tse lächelte. »Ja, wir haben aufeinander gewartet, um uns gegenseitig in Bewegung zu setzen, und
Prinz Yan hat uns
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