Das Geschenk der Sterne
Wasserfall hin wie ein verliebter Mann seiner Frau.«
»Und ich dachte, er wollte sich dem Tod hingeben«, murmelte Min Teng.
»Er erinnert mich an einen Fährmann, mit dem ich vor vielen Jahren über die Stromschnellen von Tschang Schen fuhr«, sagte Tschuang Tse. »Er lenkte sein Boot so sicher und geschickt, als sei er ein Geist, und ich fragte ihn, ob man eine solche Meisterschaft in der Beherrschung eines Bootes erlernen könne. Er bejahte und erklärte mir: Die Haltung dessen, der ein Boot sicher durch wildes Wasser steuern kann, ist so geartet, als wollte er es dem Sinken preisgeben. Er rudert, als gäbe es kein Boot, und vergißt völlig das Wasser um ihn herum. Er sieht die
Stromschnelle so an, als wäre sie festes Land, und betrachtet das Kentern wie das Festfahren eines Wagens. Wer so fest über den Dingen steht, welches Ufer sollte er nicht unversehrt erreichen? Ein Mann, der um Tonscherben spielt, wird gut spielen. Wenn er eine Jadefigur einsetzt, wird er unruhig sein und schlechter spielen. Und wenn sein Einsatz eine Goldmünze ist, wird er ängstlich und verwirrt sein und das Spiel verlieren. Sein Geschick ist in allen drei Fällen das gleiche, aber sein Gemüt wird vom Wert seines Einsatzes beeinflußt. Wer dem Äußeren Gewicht gibt, wird im Inneren hilflos.«
Als die Flüchtlinge die Pferde losbanden, um ihre Reise fortzusetzen, wurde Min Teng mit einem Schlag bewußt, daß alle Worte Tschuang Tses auf den Boden seiner Seele fielen wie Saatkörner, deren Bedeutung er erst mit der Zeit erkennen würde. Nachdem Tschuang Tse sein falsches Selbstbild, sein altes Ich zerstört hatte, war es Min Teng so vorgekommen, als sei in ihm nichts geblieben als Leere. Nun erkannte er, daß es eine fruchtbare Leere war, die sich nach und nach mit Sinn füllen würde, und daß es am besten sein würde, möglichst geduldig und gelassen darauf zu warten.
Nachdem sie eine gute Wegstrecke zurückgelegt hatten, ritten die Reisenden durch einen kleinen Wald und erblickten, als sie wieder daraus hervorkamen, einen reglos stehenden, buckligen Mann, der Zikaden mit einer in Leim getauchten Rute aus der Luft fing, als würde er sie wie Früchte von den Bäumen pflücken. Sie hielten ihre Pferde an und betrachteten den geschickten Fänger eine
Weile, bevor Yu Lin ihn begrüßte und fragte: »Beruht deine Geschicklichkeit auf dem Besitz eines geheimen Wissens?«
Der Bucklige antwortete: »Ja, ich besitze ein Geheimnis, und es heißt beharrliche Übung. Drei Monate lang habe ich immer wieder ein rundes Erdkügelchen auf die Rute gelegt und sie mit ausgestrecktem Arm gehalten. Als es nicht mehr herunterfiel, verfehlte ich von den Zikaden nur noch wenige. Dann legte ich drei Kügelchen auf. Als sie nach drei weiteren Monaten nicht mehr herunterfielen, verfehlte ich unter zehn Zikaden höchstens noch eine. Dann legte ich fünf Kügelchen auf die Rute, und seit die nicht mehr herunterfallen, kann ich die Zikaden nur so abpflücken. Ich lasse meinen Körper unbeweglich wie einen Baumstumpf werden und halte meinen Arm ausgestreckt wie einen dürren Ast. Von all den unzähligen Dingen zwischen Himmel und Erde kenne ich nur noch die Flügel der Zikaden. Davon weiche ich nicht das geringste Stück ab und tausche die Flügel der Zikaden gegen keinen Schatz der Welt.«
Nachdem die Reisenden eine Weile schweigend weitergeritten waren, sagte Tschuang Tse: »Wer seinen Willen wie der Zikadenfänger ohne Zerteilung und Ablenkung gebraucht, dem verdichtet er sich zu einer geistigen Macht. So bringt man vieles fertig!«
»Ist der Bucklige ein Mensch des Tao?« fragte Min Teng.
Tschuang Tse lachte. »Das Tao läßt sich nicht mit einer klebrigen Rute fangen! Wenn es genügen würde,
seine ganze Willenskraft zu sammeln und gezielt einzusetzen, um den Weg ins Tao zu finden, gäbe es viele Menschen des Tao, denn viele Menschen haben einen starken Willen. Doch das Tao öffnet sich nicht den Willensstarken, sondern den Sehnsüchtigen. Es öffnet sich nicht den Berechnenden, sondern den Absichtslosen.«
»Ist der Mann, der sich mit dem Wasserfall immer wieder in die Tiefe reißen läßt, ein Mann des Tao?« wandte sich Yu Lin an Tschuang Tse.
»Er ist ein Mann des Wassers; er kennt es so gut, als wäre er ein Fisch. Aber er ist kein Mann des Tao, denn sein Handeln ist zielgerichtet. Er läßt sich nur deshalb immer aufs neue mit dem Wasser in die Tiefe fallen, weil er große Freude daran hat – wie der Zikadenfänger sich freut, wenn ihm die
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