Das Geschenk der Sterne
Zikaden auf den Leim gehen. Beide gleichen einander, weil sie etwas tun, um etwas anderes damit zu erreichen. Der Mensch des Tao aber will nichts erreichen, er unterstellt sein Tun keinem bestimmten Zweck. Er handelt absichtslos, und deshalb erreicht er das Höchste. Er berechnet nichts, und deshalb erlangt er das Wertvollste. Er geht ziellos, und deshalb ist er auf dem besten Weg.«
VIERTER TEIL
DIE BOTSCHAFT DES WASSERS
Da die Flüchtlinge zügig und ohne neuerliche Unterbrechung weitergeritten waren, erreichten sie im letzten Licht des Tages die Stadt Mang Wu, deren Häuser sich in mehreren Reihen um das Ufer eines großen ovalen Sees scharten.
»Die Menschen lieben es, sich am Wasser anzusiedeln«, sagte Tschuang Tse, als sie sich den ersten Häusern der Stadt näherten. »Sie trinken es, waschen sich damit, baden darin und beuten seinen Fischreichtum aus. Sie berühren es Tag für Tag, aber sie verstehen seine Botschaft nicht.«
»Welche Botschaft verkündet das Wasser?«
»Hast du dich das noch nie selbst gefragt?«
Min Teng, verwirrt durch die unverhoffte Gegenfrage,
begann darüber nachzudenken, welche Botschaft das Wasser wohl senden mochte, doch bevor er ein nennenswertes Ergebnis erzielte, wandte sich Yu Lin an Tschuang Tse: »Spielst du auf die Stelle im Buch des Lao Tse an, wo er schreibt, daß es auf der ganzen Welt nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser gebe, doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, ihm nichts gleichkomme; und daß fast jeder wisse, daß Schwaches das Starke überwältige und Weiches das Harte besiege, doch kaum jemand danach zu handeln vermöge?«
Tschuang Tse lächelte. »Bei dir ist dieses Buch in guten Händen, weil du es im Herzen trägst. Kennt ihr die Geschichte vom steten Tropfen und dem Stein?«
Yu Lin und Min Teng verneinten, und während sie ihre Pferde zum Ufer des Sees lenkten, erzählte Tschuang Tse: »Als der stete Tropfen zum ersten Mal auf den Stein fiel, lachte der Stein und spottete: ›Du bist wohl größenwahnsinnig! Willst du dich sinnlos an mir vergeuden? ‹ Der stete Tropfen schwieg. Nach fünf Jahren war dem Stein das Lachen vergangen, und er mußte dem steten Tropfen zugestehen: ›Eins muß ich dir lassen – du bist zwar weich, aber hartnäckig.‹ Nach zehn Jahren bekannte der Stein: ›Ich habe dich unterschätzt.‹ Und nach hundert Jahren mußte er eingestehen: ›Du hast eine Mulde in mich hineingetropft. Wieso kann etwas so Weiches wie du etwas so Hartes wie mich verformen?‹ Der stete Tropfen antwortete: ›Weil Nachgiebigkeit und Beständigkeit auf lange Sicht stärker sind als Härte und Starre.‹ Darauf fiel der Stein in ein langes Schweigen.«
Yu Lin beeindruckte aufs neue die Mühelosigkeit, mit der Tschuang Tse tiefe Einsichten zu Worten formte, als würde er über Alltäglichkeiten reden. Doch nicht nur seine Worte, auch seine Gesten und Bewegungen, sein Mienenspiel, sein Lächeln, seine Blicke – eigentlich alles an ihm war von einer erstaunlichen Leichtigkeit erfüllt, die aus seiner Seele zu strömen schien. Yu Lin fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn sie in Tschuang Tses Haut steckte, wenn sie über seine Weisheit, Gelassenheit und innere Heiterkeit verfügte, die ihn immer auf den richtigen Weg zu führen schienen, als würde er niemals Irrtümern unterliegen, keine düsteren Tage kennen, keine Zweifel haben. Er mußte sich fühlen wie ein Adler im Gleitflug, der aus großer Höhe auf die Welt hinabsah, sich von den Winden durch den Himmel tragen ließ und seinen Flug genoß. Nichts von dem Verdrießlichen, Sauren, Verzagten, das die Lebenserfahrung den meisten Menschen in seinem Alter eingebleut hatte, ging von ihm aus, nichts davon hatte sich in seinem Gemüt festgesetzt, als habe der Zahn der Zeit bei ihm auf Stein gebissen. In sein Gesicht hatten sich nur wenige Falten eingegraben. Er sah aus wie ein Mittvierziger und hatte die Ausstrahlung eines noch jüngeren Mannes, der Freude an seinem Leben verspürte und mit offenen Sinnen durch seine Tage spazierte. Dabei ging Tschuang Tse bereits, wie Yu Lin von Kun Liang wußte, auf die Sechzig zu. Hatte er sich soviel Jugendlichkeit bewahrt, weil ihm als junger Mann das Tao geschenkt worden war? Verminderte das Aufgehen eines Menschen im Tao womöglich
gewisse Alterserscheinungen des Körpers und des Gemüts?
Ihre Haltung zu Min Teng konnte Yu Lin nur schwer bestimmen. Sie verachtete Soldaten, weil deren Beruf das Töten anderer Menschen war. Aber
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