Das Geschenk der Sterne
Entscheidung
ihres Anführers fügten, der sich an Min Teng wandte: »Gib mir die Armbrust in deiner Satteltasche, und wir lassen euch unbehelligt ziehen!«
»Wenn ihr es in eurer Güte gestattet«, erwiderte Min Teng, »würde ich sie gern behalten.«
»Ihr laßt uns unser Leben, und wir lassen euch eures«, schlug Tschuang Tse vor. »Ich finde, dies ist ein gutes Angebot, das ihr sicherlich nicht ausschlagen werdet.«
Der Anführer konnte nur mühsam seine Wut verbergen, und der jüngere seiner beiden Begleiter wirkte so, als würde er sich am liebsten mit erhobenem Schwert auf die Reisenden stürzen. Doch die Wegelagerer beherrschten ihre Gefühle und gaben ihren Pferden die Fersen, ohne die Flüchtlinge eines weiteren Wortes zu würdigen.
»Warum hast du deine Armbrust nicht aus der Satteltasche gezogen, als die Schurken hinter dem Hügel hervorkamen?« wandte sich Yu Lin an Min Teng.
»Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, aber ich hätte nicht genug Zeit gehabt, die Armbrust zu spannen und einen Pfeil einzulegen. Außerdem hätte ein solcher Versuch die Schurken zu einem überstürzten Angriff bewegen können, und dazu wollte ich sie auf keinen Fall ermutigen.«
Yu Lin ließ den Dolch wieder unter ihrer Bluse verschwinden.
»Kannst du damit wirklich so gut umgehen, wie du behauptet hast?« fragte Min Teng.
»Gut genug, um mich besser nicht dazu zu zwingen. Glaubt ihr, daß sie uns verfolgen werden?«
Tschuang Tse sah den Wegelagerern nach, die eine lange Staubwolke hinter sich erzeugt hatten, und schüttelte den Kopf: »Selbst wütende Jäger verzichten auf die Erlegung der Beute, wenn sie ihnen gefährlich werden kann.«
DER MANN DES WASSERS UND DER ZIKADENFÄNGER
Als die Flüchtlinge das Gebiet der Hundert Kahlen Hügel schon weit hinter sich zurückgelassen hatten und eine freundlichere Landschaft durchquerten, sahen sie zu ihrer Überraschung linker Hand einen Wasserfall, der von einer turmhohen Felskante in die Tiefe stürzte und weiß im Sonnenlicht aufschäumte.
Sie verließen den Weg und ritten querfeldein, um das unverhoffte Naturschauspiel aus der Nähe zu betrachten. Als sie den Wasserfall fast erreicht hatten, sahen sie einen Mann, der mit den Wassermassen in die Tiefe stürzte.
»Vielleicht kann ich ihn noch retten!« rief Min Teng, sprang von seinem Pferd und rannte auf das Flußufer zu. Yu Lin tat es ihm nach und lief ihm hinterher. Auch Tschuang Tse stieg ab, aber ohne die geringste Eile. Er band die Pferde an einen Baumstamm und folgte seinen Begleitern an das Ufer des Flusses. Als er es erreichte, stieg der Mann aus dem Wasser und sang dabei ein heiteres Lied.
Min Teng, der seine Verwirrung nicht verbergen konnte, sprach ihn an: »Dieser Wasserfall stürzt so tief herab, daß selbst Fische davor zurückschrecken, sich in seinen Sog ziehen zu lassen. Wie kommt es, daß du keine Furcht hast, in die Tiefe gezogen zu werden? Und wie kommt es, daß du unversehrt aus den wilden Wassermassen auftauchst und vor Heiterkeit nur so strahlst? Hast du ein Geheimnis, das es dir ermöglicht?«
Der junge Mann lächelte und sprach: »Nein, ich habe kein Geheimnis. Ich liebe einfach nur das Wasser und seine wilde, ungestüme Kraft, die mir nichts antut, weil sie meine Liebe zu ihr spürt. Mit dem saugenden Strom zusammen lasse ich mich treiben und in die Tiefe reißen, mit dem aufschäumenden Wasser zusammen komme ich wieder an die Oberfläche. Nichts macht mir größere Freude in meinem Leben. Ich folge dem Sinn des Wassers, werde eins mit seinem Wesen und tue nichts aus eigenem Antrieb. Deshalb kann mir nichts geschehen. Anfangs war es Gewohnheit, dann wurde es mir zur Natur – und ist nun mein Schicksal.«
»Kannst du mir deine Worte näher erklären?« bat Min Teng.
»Ich wurde am Ufer dieses Flusses geboren und fühle mich hier zu Hause: Das ist die Gewohnheit. Schon als Kind war das Schwimmen und Tauchen mein größtes Vergnügen. Ich wuchs mit dem Wasser auf und fühle mich im Wasser wohl: Das ist meine Natur. Ohne zu wissen, warum ich mich der Gewalt des Wasserfalls anvertraue, gebe ich mich ihr hin: Das ist mein Schicksal.«
Nach dieser Erklärung verabschiedete sich der junge Mann und schickte sich an, den schroffen Felsen zu besteigen, von dem der Wasserfall stürzte, um sich erneut von ihm in die Tiefe mitreißen zu lassen.
Während die drei Reisenden zu ihren Pferden zurückgingen, sagte Yu Lin: »Habt ihr das freudige Strahlen in seinen Augen gesehen? Er gibt sich dem
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