Das Geschenk der Sterne
aufwärmen werde. Das hat zwei Vorteile für euch: Zum einen wird das Essen schnell auf dem Tisch stehen; zum anderen wird es besser schmecken, als wenn ich es zubereiten würde, denn die Kochkünste meiner Frau sind weitaus besser als meine. Macht es euch bequem! Ich komme gleich mit einem großen Tablett voller Köstlichkeiten zurück. Und während ihr euch daran gütlich tut, werde ich die beiden freien Gästezimmer für euch herrichten und mich um eure Pferde kümmern.«
Bald darauf kehrte Mo Tschen ins Speisezimmer zurück, entzündete vier Laternen und tischte seinen Gästen Reis, Fisch, Gemüse, Nüsse, Früchte, Wasser und Wein auf. »Eigentlich müßte ich euch einen guten Appetit wünschen, aber ich sehe euch an, daß ihr ihn bereits habt«, bemerkte er mit einem Augenzwinkern, bevor er sich wieder zurückzog.
Nachdem die Flüchtlinge eine Weile schweigend gegessen hatten, fiel Yu Lins Blick auf Tschuang Tse, der sich die Speisen mit sichtlichem Genuß schmecken ließ und dabei ganz im Augenblick aufging. Während sie ihn betrachtete, erinnerte sie sich an eins der Gespräche, die sie mit Kun Liang über Tschuang Tse und das Tao geführt hatte. Auf ihre Frage, woran man einen Menschen des Tao erkennen könne, hatte der Heilkundige geantwortet:
»Wo immer ein Mensch des Tao sich aufhält, ob in der Heimat oder in der Ferne, er denkt nicht an die Zukunft. Auch wenn er sich nicht sonderlich darum bemüht, wird er mit allem Hab und Gut versorgt, das er braucht. Und obwohl er nicht weiß, wie die Sachen zu ihm kommen, so hat er doch immer zu essen und zu trinken.«
Schon nach ihrem ersten Gespräch mit Kun Liang über Tschuang Tse hatte sie sich gewünscht, diesem Weisen einmal zu begegnen, um ihm Fragen zu stellen, die sie beschäftigten. Fragen über die Liebe und das Glück, Fragen über das Tao, über die Vergänglichkeit und die Beschaffenheit der menschlichen Seele. Und nun saß sie mit ihm an einem Tisch und wagte nicht, ihn in seinem andächtigen Genuß der Speisen zu stören.
Nachdem Tschuang Tse von dem Fisch gekostet hatte, erzählte er unvermittelt: »In der letzten Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich großen Hunger, aber nichts zu essen hatte – und leider auch kein Geld. Also ging ich mit knurrendem Magen zu dem Aufseher des Flusses und bat ihn darum, mir Getreide zu leihen. Er sagte mir, daß er in einigen Tagen Steuern einnehmen und mir dann Geld borgen werde, von dem ich mir Getreide kaufen könne. Daraufhin erzählte ich dem Aufseher, daß auf meinem Weg zu ihm jemand meinen Namen gerufen hatte. Überrascht hatte ich zur Seite geblickt und einen Fisch gesehen, der in einer flachen Pfütze am Wegesrand zappelte. Ich fragte den Fisch, was er in dieser Pfütze mache. Er wußte nicht, wie er in seine mißliche Lage
gekommen war, und bat mich um einen Eimer Wasser, um ihn am Leben zu erhalten. Ich antwortete ihm, daß ich noch wichtige Besorgungen zu erledigen hätte, die einige Tage in Anspruch nehmen würden, aber danach Wasser aus dem Fluß schöpfen und es ihm bringen werde. Der Fisch erwiderte, daß ich dann nicht mehr zu der Pfütze zurückzukehren bräuchte, in der er zappelte, sondern ihn in dem nächstliegenden Geschäft finden werde, wo es getrockneten Fisch zu kaufen gibt.«
»So endete dein Traum?« fragte Yu Lin.
»Ja. Ich glaube, der Aufseher des Flusses hatte verstanden, was ich ihm sagen wollte, aber ich weiß nicht, ob er mir Weizen geliehen hat.«
»Offensichtlich wirfst du die Saat des Tao auch in deinen Träumen aus!« stellte Min Teng fest.
Tschuang Tse schmunzelte und führte ein weiteres Stück Fisch zu seinem Mund.
EIN LEISES GESPRÄCH
»Yu Lin hatte auch einen Traum in der letzten Nacht«, sagte Min Teng. »Einen Wahrtraum, in dem sie in die Zukunft geblickt hat. Sie hat es kurz erwähnt, als wir Mo Tschens Gasthaus suchten.«
Tschuang Tse warf der jungen Frau einen überraschten Blick zu. »Magst du uns davon erzählen?«
Yu Lin senkte den Blick, als würde sie über Tschuang Tses Bitte nachdenken. Schließlich antwortete sie: »Seit fast zweihundert Jahren führen alle Länder unter dem Himmel erbitterte Kriege gegeneinander, und viele Menschen glauben, daß sie niemals enden werden. In meinem Wahrtraum der letzten Nacht sah ich, daß der
Tag kommen wird, an dem diese Kriege beendet und alle kriegsführenden Reiche geeint sein werden unter der Führung eines mächtigen Herrschers. Doch obwohl damit eine Zeit des Friedens beginnt, wird es unendlich viel
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