Das Geschenk der Sterne
offensichtlich hatte Min Teng noch niemanden getötet und den Befehl nicht ausgeführt, Tschuang Tse zu ermorden, womit er sich selbst auf die Todesliste von Prinz Yan gesetzt hatte. Zu einer so folgenschweren Befehlsverweigerung gehörten viel Mut und ein starkes Gewissen, und Yu Lin mochte mutige, gewissensstarke Menschen. Mit seinem hochgewachsenen, gut ausgebildeten Körper sah Min Teng wie ein Mann aus, in dessen Nähe sich eine Frau beschützt fühlen konnte. Er wirkte zwar hart und kühl, doch hinter der Fassade seiner Haltung hatte Yu Lin einige Male eine Weichheit und eine Wärme gespürt, die sie überrascht und berührt hatten. Wahrscheinlich war er es durch den Soldatenberuf gewöhnt, seine Gefühle zu verbergen. Doch nun war er kein Soldat mehr, auch wenn er noch sein Schwert und seinen Dolch trug.
Min Teng blickte Yu Lin, die neben ihm ritt, unvermittelt an, als hätte er ihre Gedanken gespürt, und wieder war er es, der sich der Begegnung ihrer Blicke nach kurzer Zeit entzog. Warum hielt er ihren Blicken nicht stand? Befürchtete er, daß sie etwas in ihm entdecken könnte, was er versteckt halten wollte? Obwohl noch manche Fragen, die sie sich zu Min Teng stellte, unbeantwortet waren, spürte sie, daß sie ihm vertrauen konnte.
Als er sie erneut anblickte, mußte sie unwillkürlich lächeln. Er wirkte zunächst überrascht, erwiderte dann aber ihr Lächeln. Sie hatte ihn noch nie lächeln sehen. Es war das erste Mal, daß er nicht vor ihrem Blick flüchtete. Und sie sah die Wärme und Weichheit, die sie in seiner Seele gespürt hatte, zum ersten Mal auch in seinen Augen. Unwillkürlich mußte sie an Lao Tses Worte denken, daß Weiches das Harte besiegt.
Min Teng fühlte sich von Yu Lins unverhofftem Lächeln reich beschenkt und spürte voller Freude, wie es auf den Grund seiner Seele sank: ein wahres Gefühl, eine gefühlte Wahrheit, die er nie verlieren würde. Wie die ersten Strahlen der Morgensonne fiel Yu Lins Lächeln in die in Dunkelheit getauchte Landschaft seines neuen Lebens.
»Ich habe über deinen Traum nachgedacht, der dir wie eine Warnung vor der Liebe erschien«, sagte er. »Bislang haben sich alle deine Wahrträume auf das Schicksal anderer Menschen bezogen, doch dieser Traum galt erstmals dir selbst. Du sagtest, alles darin sei wie in dichten Nebel gehüllt gewesen. Hattest du zuvor schon einmal einen Wahrtraum, in dem du keine klare Sicht auf die Geschehnisse hattest?«
»Nein, es war das erste Mal so. Sonst habe ich immer alles ganz klar und deutlich gesehen.«
»Dann gab es zwei erste Male in diesem Traum, der deshalb vielleicht gar keine Reise deiner Seele in die Zukunft, sondern ein ganz gewöhnlicher Traum war«, erwog Min Teng.
»Aber ich kann mich so genau an ihn erinnern, wie sonst nur an meine Wahrträume. Dennoch stimmen deine Worte mich nachdenklich. Vielleicht hatte ich damals wirklich nur einen gewöhnlichen Traum, den ich mir nicht zu Herzen nehmen sollte. Doch in der letzten Nacht habe ich in die Zukunft gesehen, dessen bin ich mir ganz sicher.«
»In wessen Zukunft?« fragte Min Teng.
»In die Zukunft der Länder, die seit so vielen Jahren Krieg miteinander führen.«
»Seht!« rief Tschuang Tse, drehte sich zu seinen Mitreisenden um und wies auf ein rotbraun gestrichenes, stattliches Haus. »Dort ist unsere Herberge für die Nacht.«
DER FISCH IN DER PFÜTZE
Das Gasthaus »Goldener Drache« lag unweit der Hauptstraße, die in die Stadt führte, am Ufer des Sees, auf dem noch einige Fischer in ihren Booten auf späten Fang hofften.
Der Gastwirt Mo Tschen, ein mittelgroßer Mann um die Vierzig, dessen Haare vorzeitig weiß geworden waren, begrüßte die Ankömmlinge mit unverbindlicher Höflichkeit, die sich in aufrichtige Freundlichkeit verwandelte, nachdem er Kun Liangs Brief gelesen hatte.
»Es ist mir eine Ehre und eine große Freude, euch kennenzulernen«, erklärte er und bat Tschuang Tse und seine Begleiter, ihm ins Haus zu folgen und sich von den Anstrengungen des Tages zu erholen. Er führte sie in ein längliches Zimmer mit mehreren Tischen, das offensichtlich für die Einnahme von Mahlzeiten vorgesehen war.
»Hast du heute keine Gäste?« fragte Tschuang Tse.
»Doch, zur Zeit sind vier der sechs Zimmer belegt. Unsere Gäste haben schon zu Abend gegessen. Meine Frau hat heute mehr Speisen vorbereitet, als nötig gewesen wäre, da zwei Gäste kurzentschlossen am Nachmittag abgereist sind. So ist einiges übriggeblieben, das ich jetzt
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