Das Geschenk der Sterne
zum Teil an mich weitergegeben hat.«
»Er hat sich also immer noch keine neue Frau gesucht?«
Yu Lin verneinte. »Selbst wenn er die Zeit gehabt hätte, um eine Frau zu werben, hätte er es nicht getan. Und ich glaube, er wird es auch nicht mehr tun. Deine Schwester ist in seinem Herzen lebendig geblieben, wie seine Liebe zu ihr. Er redet manchmal so von ihr, als würde sie noch leben, obwohl sie schon vor so vielen Jahren gestorben ist. Dein Schwager ist ein guter Mann, dem ich sehr viel zu verdanken habe.«
»Ja, das ist er. Und meine Schwester war eine gute Frau. Die beiden haben niemandem etwas zuleide getan. Sie liebten einander aufrichtig und waren für jeden da, der ihre Hilfe brauchte. Lange Jahre haben sie sich nach einem Kind gesehnt. Und als endlich die Zeit für meine Schwester gekommen war, ihr Kind zu gebären, riß das Schicksal sie und ihren Mann auf die grausamste Weise auseinander. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch geglaubt, daß der Himmel uns Menschen gegenüber,
wenn schon nicht Güte, so doch eine gewisse Gerechtigkeit walten läßt. Seit dem Tod meiner Schwester und ihres ungeborenen Kindes habe ich diesen Glauben verloren.«
»Der Himmel ist weder gütig noch gerecht. Für das Schicksal sind alle Menschen nur stroherne Opferhunde«, sagte Tschuang Tse.
»Das sind keine schönen Worte«, bemerkte Mo Tschen.
»Wahre Worte sind selten schön«, erwiderte Tschuang Tse.
Der Gastwirt seufzte. »Ich wollte, ich könnte dir widersprechen. Aber wohin ich auch blicke, sehe ich die maßlose Gleichgültigkeit des Schicksals. Ich habe meine Schwester verloren, meinen Bruder, und meine geliebte Tochter hat es mir auch genommen. Hätte ich nicht meine Frau und meinen Sohn, wäre ich wohl ein trauriger, verbitterter Mann, der nur noch aus Gewohnheit morgens aufsteht, sein Tagwerk verrichtet und sich abends zum Schlafen legt. Leider kann ich euch meine Frau und meinen Sohn nicht vorstellen, da sie heute nachmittag zur Schwester meiner Frau geritten sind, um ihr Gesellschaft zu leisten und bei ihr zu übernachten. Mein Schwager schreibt, daß ihr so schnell wie möglich über die Grenze nach Wei flüchten wollt. Wenn ihr morgen in aller Frühe aufbrecht und zügig reitet, könnt ihr die Grenze noch vor Mitternacht erreichen.«
»Wird es schwierig sein, sie zu überschreiten?« fragte Min Teng.
»Nach Sonnenuntergang wird es leichter sein als im Tageslicht. An bestimmten Stellen wird es leichter sein als an anderen. Die Grenzwächter von Wei werden euch nicht daran hindern, ihr Land zu betreten. Die Soldaten von Sung schießen ihre Pfeile ohne Warnung auf Grenzübergänger, seit Prinz Yan den Versuch der Landesflucht mit der Todesstrafe belegt hat. Auf dem Weg zur Grenze müßt ihr auf der Hut vor Wegelagerern sein, die ihr Unwesen in den Wäldern treiben. Ihre größte Begehrlichkeit gilt zwar den Lieferungen von Nahrungsmitteln und Waffen für die Grenzsoldaten, aber sie lassen keine Gelegenheit verstreichen, sich auch anderweitig zu bereichern. Auch wenn sie vor allem an euren Pferden interessiert sein dürften, werden sie euer Leben nicht verschonen, falls ihr ihnen in die Hände fallt. Sie leben nicht nur jenseits der Gesetze, sondern jenseits der Menschlichkeit. Den Hauptweg zur Grenze, auf dem die Karren mit Nahrungslieferungen für die Soldaten rollen, solltet ihr auf jeden Fall meiden und Nebenwege benutzen.«
»Wie groß ist die Gefahr, von den Grenzsoldaten von Sung entdeckt zu werden?«
»Nicht allzu groß«, antwortete Mo Tschen auf Min Tengs Frage. »Die Grenze zwischen Sung und Wei ist sehr lang, und Prinz Yan kann nicht genug Soldaten zu ihrer Sicherung entbehren wegen seiner Kriege mit anderen Ländern. In der Regel bekommt eine kleine Gruppe von Soldaten einen Abschnitt zugeteilt, der viel zu groß ist, um ihn wirksam zu bewachen. Ich rate euch, die Grenze etwa zwanzig Meilen westlich der Hauptstraße
nach Wei zu überqueren, weil in diesem Gebiet nach meinem Wissen nur sehr wenige Soldaten patrouillieren. Dort wird die Grenze durch den Fluß Hu Yong gebildet, der gewöhnlich ein natürliches Hindernis darstellt. Doch da es seit fast zwei Monaten nicht mehr geregnet hat, führt er nur wenig Wasser, und ihr könnt ihn auf dem Rücken eurer Pferde durchqueren. Wenn ihr das andere Ufer erreicht habt, seid ihr in Sicherheit!«
»Wir danken dir für deine Auskünfte«, sagte Tschuang Tse.
»Eins muß ich noch erwähnen: Es gibt einen gefährlichen Tiger in den Wäldern des
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